Die Sonntagsfrage

Gedichte für eine bessere Welt – funktioniert das, Frau Geist?

13. März 2022
von Börsenblatt

Ulrike Geist hat vor einem Jahr in Tübingen die Lyrikhandlung am Hölderlinturm eröffnet. Kraft, Zuversicht, Frieden – das alles kann man laut Geist in Gedichten finden. Wie sie mit ihrer Lyrikhandlung durch das Pandemiejahr gekommen ist, welche Aktionen sie zum Geburtstag plant und was auf ihrer Lyrikliste für diese friedlose Zeit steht, erklärt Ulrike Geist in der Sonntagsfrage.

Lyrik öffnet Räume, Lyrik baut Brücken zu Anderen und zu unserem eigenen Innern, Lyrik ist Freiheit, sie kennt kein „um-zu“. 

Lyrik wirkt! Deshalb möchte ich die Frage, die Sie mir als „Sonntagsfrage“ stellen, eindeutig mit Ja beantworten. Lyrik öffnet Räume, Lyrik baut Brücken zu Anderen und zu unserem eigenen Innern, Lyrik ist Freiheit, sie kennt kein „um-zu“, sie will unsere Gedanken nicht in eine Richtung treiben, die Sprache darf zu sich selbst kommen, sie muss nicht der Kommunikation oder Information dienen. In ihrer Reduktion und Konzentration ist Kraft, Stille und Ruhe, kein Lärm. Und wer sich in sie vertieft, spürt, welchen Halt sie zu geben vermag.  So kommt die belarussische Dichterin Volha Hapeyeva (die soeben mit dem Wortmeldungen-Preis ausgezeichnet wurde) in ihrem Essay „Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils“ auf einen Freund zu sprechen, der in Belarus ins Gefängnis kam, nur weil er Bücher verkaufte und obwohl dieser kein Poesieliebhaber war, bat er in seinem ersten Brief aus der Haft um Gedichte, sie halfen ihm zu überleben.

 

Jeden Morgen ein Gedicht

Und so liegt neben meiner morgendlichen Kaffeetasse das Jahrbuch der Lyrik (derzeit 2021 und 2022). Ich lese täglich daraus ein Gedicht, und lasse mich jeweils überraschen, an welchem ich hängen bleibe. Manchmal kenne ich die Autorin oder den Autor nicht und mein Interesse ist geweckt, ich schaue nach mehr…beginne zu recherchieren.

Lieblingslyriker:innen habe ich wohl eher nicht, denn das ändert sich immer wieder, auch je nach meiner eigenen Verfassung und natürlich entdecke ich immer wieder neue Stimmen, die mich erreichen und zu denen ich in mir eine Resonanz finde. Aber manche bleiben auch sehr lange Zeit bei mir, so wie z. B. Nadja Küchenmeister, Adam Zagajewski, Anna T. Martin oder Barbara Köhler.

Statt nach einem Ferienhaus z. B. in Südfrankreich oder anderswo zu schielen, habe ich mir eine Lyrikhandlung „geleistet“. Und nun bin ich von Gedichten gänzlich umgeben. Ein gutes Gefühl.

Die Eröffnung meiner Lyrikhandlung war ein wohl überlegter Schritt, ich habe lange Jahre als Redakteurin und Herausgeberin gearbeitet, das war zusammen mit Familienarbeit manchmal sehr stressig und für Gedichte fand ich immer viel zu wenig Zeit. Natürlich geht derzeit noch mein Erspartes in diesen Laden, damit habe ich gerechnet. Aber statt nach einem Ferienhaus z. B. in Südfrankreich oder anderswo zu schielen, habe ich mir eine Lyrikhandlung „geleistet“. Und nun bin ich von Gedichten gänzlich umgeben. Ein gutes Gefühl.

Die Auswahl ist sehr groß, sehr vieles auch, was es nicht im Barsortiment zu finden gibt; und ich habe doch schon einige Kunden, die gerne immer wieder kommen, auch junge Menschen.  Im Sommer kommen auch viele Touristen auf dem Weg zum Hölderlinturm vorbei und so ist mein Sortiment auch hinsichtlich Hölderlin eigentlich umfassend. Natürlich muss man mehr tun, als nur Bücher verkaufen und so habe ich im ersten Geschäftsjahr versucht darüber hinaus Ideen zu verwirklichen wie das Aufstellen eines Lyrikautomaten, Lyrik-Aktionen mit Schulklassen, oder mit dem Aufbau eines Lyrikkalenders mit Veranstaltungen aus Baden-Württemberg begonnen.

Zum ersten Geburtstag der Lyrikhandlung gibt es Lyriksprechstunden

Neben dem Lyrikschwerpunkt bietet meine Buchhandlung zudem noch ein ausgewähltes Sortiment an literarischer, sehr bewusst ausgewählter Belletristik, Biographien und Briefwechsel, ein gut sortiertes Lyrik-Antiquariat sowie feine Papeterie aus Italien und Frankreich stellen einen weiteren Schwerpunkt dar, aber die Poesie steht über allem.

Und zum einjährigen Bestehen wird es eine besondere Aktion geben, auf die ich mich sehr freue: Am Samstag, 26. März, wird der Ulmer Lyriker Marco Kerler, von 14 Uhr bis 17 Uhr, gerüstet mit Schreibmaschine und Papier, vor der Buchhandlung Lyriksprechstunden abhalten. Jeder kann vorbeikommen, dem Lyriker von sich etwas erzählen und sich dann von einem persönlichen Gedicht überraschen lassen. Dazu gibt es Sekt, Wein, Café und leckere Kleinigkeiten und natürlich Gedichte in Hülle und Fülle. Vor Ort wird auch eine Spendenkasse für die Ukraine aufgestellt werden.

Denn auch wenn wir mit unseren Gedanken bei den Menschen in der Ukraine sind, will ich meine Veranstaltungen derzeit bewusst nicht absagen. Zu lange sind kulturelle Orte gar nicht oder nur eingeschränkt zugänglich gewesen. Dabei ist es wichtiger denn je, dass wir Orte bewahren und lebendig halten, wo wir auch wieder Kraft, Zuversicht und Frieden finden können: die Literatur, insbesondere aber die Lyrik ist solch ein innerer Ort.