Die Sonntagsfrage

Was ist frauenfeindlich an der Literaturkritik in Deutschland, Frau Seifert?

20. Februar 2021
von Börsenblatt

„Larmoyant“, „narzisstisch“ oder nicht „bescheiden“ genug - die Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert hat Verrisse aus jüngerer Zeit untersucht und kommt zu dem Schluss: Autorinnen werden anders besprochen als ihre männlichen Kollegen. 

Autorinnen werden anders besprochen als ihre männlichen Kollegen. Sie werden für anderes gelobt und für anderes getadelt, und es geht häufiger um ihre Person, statt um den Text. Diese geschlechtsspezifische Beurteilung hat historische Gründe. Für die Literaturkritik vergangener Jahrhunderte und Jahrzehnte hat die Forschung das gründlich belegt. Leider finden sich die damit verbundenen Vorannahmen und Vorgehensweisen aber auch noch in aktuellen Rezensionen.

"Die Autorin kann nicht denken"

Für meinen Artikel „Schweig, Autorin! Misogynie in der Literaturkritik“ auf 54Books.de habe ich Verrisse aus jüngerer Zeit untersucht und vielsagende Gemeinsamkeiten gefunden. Wiederholt fallen kategorische Sätze wie „Die Autorin kann nicht denken“, „Die Autorin kann nicht schreiben“, „Die Autorin hat nichts zu sagen“. Themen werden als banal und nicht literaturfähig abgetan, ästhetische Strategien als kitschig, und Texten wird der literarische Status abgesprochen – nicht selten, ohne dass sie überhaupt genau betrachtet würden.

Das hat auch mit mangelndem Verständnis weiblicher Erfahrungen und Schreibtraditionen zu tun, wie die Rezensenten sogar gelegentlich eingestehen. Allerdings ziehen sie daraus keine Konsequenzen, gehen diesen Fragen dann nicht nach. Natürlich haben wir alle zu wenig Autorinnen gelesen, weil Kanon und Curriculum so männerdominiert sind – Aufgabe professioneller Kritiker*innen wäre es aber, ihre Lücken zu schließen. Tun sie das nicht, kommen eben oberflächliche, unsachliche, verärgerte Verrisse dabei heraus.

Verächtlichmachen ist der Inbegriff der Misogynie

Und „Ärger“ wird auffällig häufig erwähnt in den Besprechungen, die ich untersucht habe. Viele Rezensenten haben ganz offensichtlich schlicht keine Lust, sich mit Themen wie Sexismus, Rassismus oder der ungleichen Verteilung von Sorgearbeit auseinanderzusetzen – und die sind nicht zufällig immer wieder Gegenstand der besonders heftig verurteilten Romane.

Die in ihnen enthaltene Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen wird abgewehrt und als Vorwurf an die Autorinnen zurückgespielt. Da heißt es dann, sie seien „larmoyant“, „narzisstisch“ oder nicht „bescheiden“ genug. Diese Diffamierung weiblicher Perspektiven und Inhalte, dieses Verächtlichmachen ist der Inbegriff der Misogynie. Denn der Ausdruck bezeichnet, so erklärt es die Philosophin Kate Manne, nicht den Frauenhass einzelner Personen, sondern ein System, das Frauen kontrolliert und in die Schranken weist, zum Schweigen bringt.

Verächtliche Urteile haben schmerzhafte Konsequenzen

Das Fatale ist: Zum Teil gelingt das auch, in jedem Fall hat es schmerzhafte Konsequenzen – das sagen die Autorinnen, mit denen ich für meinen Artikel gesprochen habe, sehr deutlich. In diesen Gesprächen und in denen mit vielen Frauen aus der Branche, die mir für den Text gedankt haben, fiel oft der Hinweis, dass diese verächtlichen Urteile aus demselben Geist erwachsen wie Belästigung, Machtmissbrauch und Übergriffigkeiten. Denn die gibt es auch in unserem guten, wahren, schönen Literaturbetrieb, nur wird bisher nicht öffentlich darüber gesprochen.

Zur Autorin

Nicole Seifert ist Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Übersetzerin und betreibt den 2019 mit dem Buchblog Award ausgezeichneten Literaturblog Nacht und Tag. Im September erscheint bei Kiepenheuer & Witsch ihr Buch "FRAUENLITERATUR. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt".