Deutsche Fachpresse: B2B Media Days 2023

Symptome der Überforderung

24. Mai 2023
von Michael Roesler-Graichen

Rund 300 Teilnehmer:innen aus Fachmedienhäusern kamen am Dienstag in der Berliner Kulturbrauerei zu den B2B Media Days zusammen. Das Programm: eine gute Mischung aus nachdenklich stimmenden Gedanken und professionellen Inhalten.

Holger Knapp

Holger Knapp, Sprecher der Deutschen Fachpresse, begrüßt die Kongressbesucher

Mindestens „ein neuer Gedanke soll es in unseren Alltag schaffen“. Diesen Wunsch äußerte Holger Knapp, Sprecher der Deutschen Fachpresse, bei der Eröffnung der B2B Media Days in Berlin (23. Mai). An guten Gedanken, auch neuen Perspektiven, war auf dem Kongress kein Mangel. Knapp, Geschäftsführer von Sternefeld Medien in Düsseldorf, ließ das Fachpresse-Jahr 2022 Revue passieren und gab einen Ausblick auf 2023. Seine Einschätzung: Es gibt ein hohes Maß an Unsicherheit, und die Erwartungen in der Branche gehen weit auseinander.

Über alle Krisenthemen hinaus sorgt nun noch eine weitere Entwicklung für Irritation, spätestens seit ChatGPT die Medien und den privaten Smalltalk bei Laune hält: „Der neue Elefant im Raum ist die künstliche Intelligenz“, so Knapp, der im folgenden ein Statement von Stephanie Walter (Wolters Kluwer) aus dem Börsenblatt zitierte. Darin plädiert sie dafür, Sorgfalt im Umgang mit KI walten zu lassen. Allzu oft produziere KI „Halluzinationen“ – plausibel klingende Unwahrheiten.

Corona hat vieles beschleunigt, auch den Abschied von der klassischen Kleiderordnung. War früher die Krawatte auf Kongressen Pflicht, ist heute das offene Hemd oder der gepflegte Rolli Standard. Und waren früher der Leder-Halbschuh oder Stiefelette und Slipper die Norm, sind es heute Sneakers und Turnschuhe. Auf rauer gewordenem Grund gibt sich die Fachmedienszene (und nicht nur sie) sportlich. Die Herausforderungen sind auch enorm: Kaum sind die Aufräumarbeiten nach dem Auslaufen der Corona-Pandemie abgeschlossen, wird die Fachmedienbranche wie andere Branchen von neuen Krisen geschüttelt, Ukrainekrieg mit Energiepreisschock, Papierpreisexplosion und Inflation mögen als Stichwörter genügen. Und dann sind da die anderen großen Themen, die den Verlagen Großes abverlangen: die Barrierefreiheit und die Corporate-Sustainability-Reporting-Richtlinie der EU (CSRD), die Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern und mehr als 40 Millionen Euro Umsatz eine Berichtspflicht auferlegen wird, voraussichtlich ab 2024. Auf der Basis des Deutschen Nachhaltigkeits-Kodexes (DNK) wird gerade von einer Arbeitsgemeinschaft, die durch Publisher Consultants initiiert wurde, ein Branchenleitfaden entwickelt, der es Verlagen ermöglichen soll, nach EU-Standards zu berichten.

Auf rauer gewordenem Grund gibt sich die Fachmedienszene sportlich. Die Herausforderungen sind auch enorm.

Dass sich "nebenbei" einer der größten Strukturwandel der Industrie- und Medienproduktion vollzieht, die digitale Transformation, gerät leicht aus dem Blick. Wer bis hierhin noch keine Symptome der Überforderung entwickelt hat, erweist sich als erstaunlich resilient. Doch während sich in den Industrien ein Umwälzungsprozess vollzieht, der die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts in den Schatten zu stellen scheint, zeigt die Gesellschaft, auf die dadurch ausgelösten Veränderungen wirken, Zeichen der Ermüdung und Zerrüttung. Es kursiert die Wendung von der „überforderten Gesellschaft“, die Armin Nassehis 2021 erschienenem Buch den Titel gab („Theorie der überforderten Gesellschaft“) – noch ein halbes Jahr, bevor Ukrainekrieg und Inflation die Lage erheblich verschärften.

B2B Media Days

Ein Motiv der Kampagne des MVFP für die Pressefreiheit; der Aufsteller zeigt das Porträt der ermordeten maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia

Philipp Welte, Burda-Vorstand und Präsident des Medienverbands der freien Presse, griff den Gedanken in seinem Eröffnungsvortrag auf. Marode Infrastruktur, steigende Verbraucherpreise, hohe Papier- und Energiepreise, ein „trauriges Konsumklima“ und schließlich der „Dogmatismus der Regierenden“ seien Ausdruck einer Überforderung. Hinzu komme die „Sorge um die Zukunft der Demokratie“, die an Strahlkraft verliere. Das „überall erblühende autokratische Denken“, die zunehmende Polarisierung und die „Einschränkung des Pluralismus“ seien problematisch, deshalb müsse man die „Vielfalt verteidigen“.

Wie wichtig die Fachpresse und mit ihr eine funktionierende Presse- und Publikationsfreiheit für Demokratie und offene Gesellschaft sind, hatte zuvor schon Börsenvereins-Hauptgeschäftsführer Peter Kraus vom Cleff betont, der kurzfristig für Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs eingesprungen war, und deren Grußwort vortrug.

Bernhard Pörksen

Bernhard Pörksen bei seiner Keynote auf den B2B Media Days

Dass dem Krisengefühl, das sich in der Fachmedienbranche in unsicheren Prognosen über die wirtschaftliche Entwicklung manifestiert, eine viel tiefere Krise zugrunde liegt, machte der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in seiner Keynote deutlich: Es ist der Verlust an Kommunikationsfähigkeit in einem Multiversum an Realitäten, die keine gemeinsame Basis mehr haben. Der Fokus auf etwas Gemeinsames geht verloren. Hier kann nur eine Schule des Miteinander-Redens helfen, die Pörksen anhand von fünf Prinzipien erläuterte. Eines davon sei die „nicht-egozentrische Aufmerksamkeit“, so Pörksen. „Der Mensch hat zwei Ohren, das ‚Ich-Ohr‘ und das ‚Du-Ohr‘, das dem anderen wirklich Gehör schenkt.“

Die "Transformation Journey" im Kesselhaus der Kulturbrauerei

Das war zugleich ein gutes Motto für den weiteren Kongresstag, an dem viele Gespräche, auch en passant, stattfanden. Die Kongressdramaturgie tat ihr Übriges, dass es nicht langweilig wurde. Schon ab dem Vormittag hatten die rund 300 Besucher:innen die Wahl, welchen Vortrag sie hören oder welche Session sie mitmachen wollten. Nach der Mittagspause fand dann eine „Transformation Journey“ nach dem bekannten Workshop-Muster des „World-Cafés“ statt. In sechs moderierten Stuhlkreisen konnten sich die Teilnehmer:innen über aktuelle Themen austauschen: von Unternehmens-Purpose über Geschäftsmodelle und Kundenbeziehungen bis zu Softwareanwendungen. Parallel zur „Journey“ fanden Vorträge zu den Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit ein, etwa Olaf Deconincks und Markus Wilhelms Präsentation „Nachhaltiges Wachstum! Wie geht das?“ Es sieht so aus, diesen Eindruck konnte man vom Kongress mit nach Hause nehmen, dass die Fachpresse auch auf diese Frage eine Antwort finden wird.