Künstlerische Unbedingtheit
Die Jury des Deutschen Buchpreises hat sechs Romane für die Shortlist ausgewählt. Ein Verlag ist sogar mit zwei Titeln vertreten.

Die Jury des Deutschen Buchpreises hat sechs Romane für die Shortlist ausgewählt. Ein Verlag ist sogar mit zwei Titeln vertreten.
Die Journalisten Holger Heimann und Wolfgang Schneider stellen in den Longlist- Leseproben die Autor:innen vor:
Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Ihre Großeltern kamen als türkische Gastarbeiter nach Deutschland. Nach dem Studium in Frankfurt am Main ging sie nach Berlin und wurde Redakteurin bei der »taz«. Pointiert und meinungsstark schreibt sie in der Zeitung über Alltagsrassismus, patriarchale Familienstrukturen, das Verhältnis zwischen Deutschen und Türken. 2019 hat sie den Debattenband »Eure Heimat ist unser Albtraum« mit herausgegeben, um einen konservativ aufgeladenen Heimatbegriff zu dekonstruieren. Denn Heimat, das ist für sie ein politischer Kampfbegriff und dystopischer Ort: »patriarchal, nationalistisch, antimodern«. 2017 debütierte Aydemir als Romanautorin mit »Ellbogen« über eine angry young woman in Berlin. Ihr zweiter Roman, »Dschinns«, erzählt von einer türkischen Migrantenfamilie und den Schwierigkeiten des Ankommens in einem fremden, abweisenden Land.
Kristine Bilkau wurde 1974 in Hamburg geboren, wo sie heute noch lebt. Sie studierte Geschichte und arbeitete zunächst als Journalistin für Frauen- und Wirtschaftsmagazine. 2015 erschien ihr Debütroman »Die Glücklichen«, der vom sozialen Abstieg einer Kleinfamilie in prekäre Verhältnisse erzählt. Bilkau hat einen genauen Blick für soziale Situationen und für das, was sie aus den Menschen machen. In ihrem neuen Roman, »Nebenan«, richtet sie ihre literarische Feldforschung auf das Soziotop der norddeutschen Provinz, schildert eine Kleinstadt und ein vom Nord-Ostsee-Kanal durchschnittenes Dorf im Zwiespalt zwischen dem Drang zum Wegzug (die Einheimischen!) und der Sehnsucht nach Rückzug (die Großstädter!). Einerseits das selbst getöpferte Biedermeier, andererseits die Unheimlichkeit leer stehender Nachbarhäuser, die zudem einen unerfüllten Kinderwunsch symbolisieren. »Es geht darum, wie Orte unser soziales Miteinander prägen können und wie unser Miteinander sich in die Orte einschreibt«, hat Kristine Bilkau in einem Interview gesagt.
Daniela Dröscher, 1977 in München geboren, lebt in Berlin. Ihr Romandebüt »Die Lichter des George Psalmanazar« (2009) wurde als »barocke Wunderkammer voll wunderlicher Fata, herzzerreißender Melancholie und Klugheit« gefeiert. In der Folge schrieb sie jedoch vor allem für die Bühne. 2018 publizierte sie dann den autobiografischen Essay »Zeige deine Klasse«, in dem sie schreibend zurückkehrte in die 500-Seelen-Gemeinde am Fuß des Hunsrück, wo sie groß geworden ist. Mit schonungsloser Offenheit erkundete sie darin das kleinbürgerliche Milieu ihrer Familie — und ihre Scham, die von »drei Ds« herrührte: »dicke Mutter, Dorf, Dialekt«. Ihr neuer Roman knüpft daran an. Er handelt von einer Dorfkindheit, die beherrscht wird von den Vorhaltungen des Vaters und Ehemanns. Er meint, seine Frau sei zu dick und deshalb verantwortlich für all die Fehlschläge im Leben der Familie.
Jan Faktor wurde 1951 in Prag geboren. Er arbeitete unter anderem als Lastenträger in der Hohen Tatra. 1978 siedelte er nach Ostberlin über, zu seiner Frau Annette Simon, einer Tochter von Christa Wolf, und verdiente sein Geld unter anderem als Kindergärtner und Schlosser. 1989 veröffentlichte der »Schalksnarr« der Prenzlauer-Berg-Dichterszene einen Band mit Sprachspielen. Seine Texte verfasste er damals noch grundsätzlich in zwei Sprachen. Geblieben ist ein Hang zum Perfektionismus. In seinem Romandebüt »Schornstein« (2006) schildert er — mit hohem autobiografischem Anteil — einen kohlhaasschen Feldzug gegen die Bürokratie. »Ich habe es abgelehnt, Dinge zu erfinden, ich hielt das für unanständig«, verrät er. Der Humor ist eine Konstante seines Schreibens, auch und gerade, wenn es nichts zu lachen gibt. Mit seinem neuen Buch bleibt er dem autobiografischen Schreiben treu. »Spielt dieser Roman in seiner eigenen Liga«, heißt es dort, »oder agiert da vielleicht doch ein Ahnungsloser?«
Wer die im Umlauf befindlichen biografischen Abrisse zu Kim de l’Horizon liest, merkt schnell, dass hier jemand Zuschreibungen abzuwehren versucht. Demnach wurde diese*r Schriftstellernde 2666 geboren, hat »Literarisches Weinen in Biel« und »Hexerei bei Starhawk« studiert, am »Treibhaus-Wettkampf für exotische Gewächse« teilgenommen und einige »attention« erregt mit einem »Damenprozessor«. Scherz beiseite: Kim de l’Horizons Identität gibt sich fantasmatisch, geschlechtlich nur darauf festgelegt, nicht festgelegt zu sein. Der in feinfühliger, artistischer Prosa geschriebene und diverse sprachliche Register ziehende Roman »Blutbuch« erforscht die Herkunft aus einer unterprivilegierten Familie im Berner Land, diePrägungen, das Weitergegebene, das Verschwiegene: »Meine Muttersprache ist das Reden, meine Vatersprache ist das Schweigen.« Schreiben ist für Kim de l’Horizon die Mitnahme des Gewesenen, aber auch die Befreiung davon. Zum Befreienden gehören Worte wie »niemensch« statt »niemand«, aber auch die Beschreibung non-binärer Hochrisiko-Sexualpraktiken.
Eckhart Nickel ist viel herumgekommen in der Welt. 1966 in Frankfurt am Main geboren, hat er in Heidelberg und New York Germanistik studiert, später in Kalifornien und der Normandie gelebt. Er ist durch Portugal gereist und hat eine »Gebrauchsanweisung« für das Land geschrieben. Selbst Kathmandu war nicht zu weit entfernt: Von dort aus leitete Nickel zusammen mit Christian Kracht die Literaturzeitschrift »Der Freund«. Die Lust am Unterwegssein konnte der Autor schon früh fruchtbar machen. Er hat über den Flaneur im Spätwerk von Thomas Bernhard promoviert und zusammen mit Kracht das Reisebuch »Ferien für immer: Die angenehmsten Orte der Welt« geschrieben. Wenn er eine Zeitreise unternehmen könnte, würde er sich ins 17. Jahrhundert zu Jan Vermeer van Delft auf den Weg machen, hat er kundgetan. Bekannt wurde Nickel vor allem als Mitglied des popliterarischen Quintetts »Tristesse Royale«. Sein aktuelles Buch »Spitzweg« ist ein anspielungsreicher Roman, der Kunst als Schule des Sehens feiert. Die Kritik war hingerissen.
233 Titel waren eingereicht worden, aus denen die Jury zunächst 20 Romane für die Longlist auswählte. Über diese wurde erneut diskutiert:
„Ein Roman gibt sich eigene Gesetze und steht doch unweigerlich in Kontakt zur Gegenwart, in der er geschrieben und gelesen wird. Alle sechs Titel der Shortlist 2022 konnten uns in ihrer ästhetischen Eigenheit überzeugen. Mit sprachlicher Brillanz und formaler Innovationskraft beschreiben sie soziale Realitäten und Phantasmen, vermessen Mitte und Ränder, umkreisen Trauer und Komik. Damit bilden die nominierten Autor:innen die thematische wie stilistische Vielfalt der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ab. Gemeinsam ist ihnen: eine künstlerische Unbedingtheit. Mit ihren Büchern beziehen sie Position, zeigen sich streitbar und zugleich offen für den Dialog. So laden wir mit der Lektüre dieser Shortlist auch ein, in einen Austausch zu treten und den eigenen Blick auf die Welt neu zu justieren.“, so fasst Jurysprecherin Miriam Zeh (Deutschlandfunk Kultur) die Diskussion der Jury über die Romane des Jahres zusammen.
Der Jury gehören neben Miriam Zeh an: Erich Klein (freier Kritiker, Wien), Frank Menden (stories! Die Buchhandlung, Hamburg), Uli Ormanns (Agnes Buchhandlung, Köln), Isabelle Vonlanthen (Literaturhaus Zürich), Selma Wels (Kuratorin und Moderatorin, Frankfurt) und Jan Wiele (Frankfurter Allgemeine Zeitung).
v.l.n.r.: Selma Wels, Uli Ormanns, Erich Klein, Miriam Zeh, Frank Menden, Isabelle Vonlanthen, Jan Wiele.
Börsenblatt-Leser:innen hatten sich ebenfalls mit der Longlist beschäftigt und in einer Umfrage ihre Favoriten ausgewählt, und das durchaus treffsicher: Drei ihrer Favoriten (Fatma Aydemirs "Dschinns", Daniela Dröschers "Lügen über meine Mutter" und Eckhart Nickels "Spitzweg") wurden auch von der Jury auf die Shortlist gesetzt.
Mit dem Deutschen Buchpreis 2022 zeichnet die Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels den deutschsprachigen Roman des Jahres aus. Der oder die Preisträger*in erhält ein Preisgeld von 25.000 Euro; die fünf Finalist*innen erhalten jeweils 2.500 Euro. Die Preisverleihung findet am 17. Oktober 2022 zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse im Kaisersaal des Frankfurter Römers statt und wird live übertragen. Interessierte können die Preisverleihung unter www.deutscher-buchpreis.de verfolgen. Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur übertragen die Veranstaltung live über den Sonderkanal „Dokumente und Debatten“ im Digitalradio und als Livestream auf Dokumente und Debatten | deutschlandradio.de.
Ab 4. Oktober 2022 werden Auszüge aus den Shortlist-Titeln in englischer Übersetzung und ein englischsprachiges Dossier zur Shortlist auf dem Internetportal www.new-books-in-german.com präsentiert. Auf der Webseite und den Social-Media-Kanälen des Deutschen Buchpreises vermitteln Videoporträts einen Eindruck von den nominierten Werken und ihren Autor*innen. Dem Börsenblatt 38 vom 22. September liegt ein Plakat mit den Shortlist-Titeln bei. Während der Frankfurter Buchmesse stellen sich Shortlist-Autor:innen und der Sieger / die Siegerin den Leser:innen und dem Fachpublikum vor. Termine in Kürze hier.
Der Hashtag zum Deutschen Buchpreis lautet: #dbp22.
das BB News ist eben Topp aktuell!