Buchmarkt Ukraine 2023

Wettbewerb auf Spitzenniveau

11. April 2024
von Börsenblatt

Der ukrainische Buchmarkt hat sich 2023 unter dem Eindruck des Angriffskriegs durch Russland behauptet. Auch wenn landesweit mehr als 1.600 Kultureinrichtungen, darunter über 600 Bibliotheken, zerstört wurden, setzten Verlage und Buchhandlungen ihre Aktivitäten auf hohem Niveau fort. Buchketten eröffneten zudem neue Läden.

Buchhändlerin Galina stellt während eines Stromausfalls batteriebetriebene Lampen in die Regale der Buchhandlung Vivet in Charkiw. 

Buchhändlerin Galina stellt während eines Stromausfalls batteriebetriebene Lampen in die Regale der Buchhandlung Vivet in Charkiw. 

Eine Frage wird ukrainischen Verlegern bei internationalen Veranstaltungen und privaten Gesprächen immer wieder gestellt: Wie können Sie während des Krieges weiterarbeiten? Die Eröffnung Dutzender Buchhandlungen, die Entstehung neuer Festivals, die Veröffentlichung Tausender neuer Bücher und beispiellose Anstrengungen, um Leser zurückzugewinnen - sind das Geschichten der Resilienz oder der Verzweiflung? In dieser Zusammenfassung heben wir die Erfolge des Literaturjahres hervor und versuchen, das Phänomen des paradoxen ukrainischen Buchmarkts im Jahr 2023 zu erklären, der mit seiner Widerstandsfähigkeit und rasanten Entwicklung in die Annalen des globalen Verlagswesens eingehen wird.

Das Ereignis des Jahres und Überleben als Leistung

Wir haben die großen ukrainischen Verlagshäuser nach dem Ereignis gefragt, das sich im vergangenen Jahr am stärksten auf ihr Verlagsgeschäft ausgewirkt hat (abgesehen vom andauernden Krieg), und sie haben übereinstimmend die Tatsache genannt, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskyj das Gesetz unterzeichnet habe, das den Import und den Vertrieb russischer und weißrussischer Bücher verbietet.

Die Fähigkeit der ukrainischen Verlage, ihre Arbeit auch im zweiten Jahr des umfassenden Krieges mit Russland fortzusetzen, ist eine ihrer größten Leistungen. Dabei würdigen sie in den sozialen Medien, in öffentlichen Reden und sogar auf Buchcovern immer wieder den Beitrag der ukrainischen Streitkräfte.

Veränderungen der Infrastruktur: Zerstörte Bibliotheken und neue Buchläden

1605 Kultureinrichtungen wurden durch die groß angelegte Invasion beschädigt oder zerstört, darunter mehr als 600 Bibliotheken. In einer Situation, in der ihr Überleben bedroht ist, versucht die ukrainische Buchbranche zu gedeihen, indem sie ihre Strategien so anpasst, dass sie sich auf die "Resilienz" konzentriert und ein Maximum an Möglichkeiten vorsieht, um verschiedene Szenarien zu überstehen.

Schaffung neuer Filialnetze

Im letzten Jahr wurden in der Ukraine 50 neue Buchläden eröffnet. Um diesen Trend besser zu verstehen: Laut der Datenbank des Ukrainischen Buchinstituts gab es am 12. Dezember 2023 in der Ukraine 449 Buchhandlungen.

Die Buchhandelskette Ye eröffnete im Jahr 2023 22 neue Filialen, womit sich die Gesamtzahl der Buchhandlungen auf 56 erhöht hat, und festigt damit ihre Stellung als größtes Buchhandelsnetz in der Ukraine. Wie das Unternehmen feststellte, markierte dieses Jahr einen Rekord in seiner 16-jährigen Geschichte.

Zuvor war KSD (bis 2017 Teil der Medienholding Bertelsmann AG), das bis zum Einmarsch Russlands im Jahr 2014 Buchhandlungen auf der Krim, in Donezk und Luhansk besaß, die führende Buchhandelskette. Von ehemals mehr als 70 Buchhandlungen gibt es jetzt noch 46, wobei acht Buchhandlungen eröffnet oder restauriert wurden (darunter eine in Cherson).

Trotz des Krieges bauen Verlage, die früher weniger auf den stationären Vertrieb an Endkunden ausgerichtet waren, zunehmend eigene Buchhandelsketten auf, wie Vivat mit seinen sieben Buchhandlungen oder der Verlag Old Lion, der inzwischen acht Buchladen-Cafés betreibt.

"Buchhandlungen erweitern den Markt, anstatt ihn nur umzuverteilen, und ziehen neue Leser an", sagt Viktor Kruglov, Leiter eines der größten ukrainischen Verlagshäuser, der Ranok Gesellschaft.

Mehr unabhängige Buchläden

Auch die Zahl der unabhängigen Buchläden hat zugenommen. Dieser Boom ist vor allem in der Hauptstadt zu beobachten, während die großen Buchketten den größten Teil der Erlöse durch die Eröffnung neuer Geschäfte außerhalb der großen Städte erhalten.

Die Buchhandlung Sense Bookstore wurde 2021 eröffnet und hat 2023 die Eröffnung einer weiteren Filiale auf der Khreshchatyk, der Hauptstraße in Kiew, angekündigt. Die Mitte Februar 2024 eröffnete Filiale ist mit einer Fläche von 1.500 Quadratmetern nun die größte in der Ukraine. Nach Angaben des Gründers wurden bisher eine Million Euro investiert.

Hervorzuheben ist, dass sich diese positive Entwicklung ohne staatliche Subventionen für Buchhandlungen vollzieht. Zwar ist die Existenz eines Gesetzes zur Unterstützung von Buchhandlungen eine gute Nachricht, doch gibt es derzeit keine Haushaltsmittel für seine Umsetzung.

… und auch mehr Verlage

Die Gründung von 19 neuen Verlagen nach dem Verbot des Verkaufs neuer russischer Bücher in der Ukraine könnte auch auf eine steigende Zahl von Leser:innen im Alltag hinweisen: von 8 % im Jahr 2020 auf 17 % im Jahr 2023. Dieselbe Studie zeigt, dass 54 % der Leser:innen die ukrainische Sprache zum Lesen wählen (zum Vergleich: 2018 wählten sie 28 %). Die Mehrheit der Fachverlage veröffentlicht ebenfalls nur in ukrainischer Sprache. Der Kitap Qalesi Verlag ist auf krimtatarische Literatur sowohl in ukrainischer als auch in (einheimischer) krimtatarischer Sprache spezialisiert.

Versuch, “Normalität” wiederherzustellen

Im Jahr 2023 erreichte Ranok bei Titeln und Auflagen 85 % der Vorkriegszahlen (im Jahr 2021 waren es 595 Titel mit einer Gesamtauflage von fast 5 Millionen Exemplaren). Vivat brachte 222 neue Titel heraus, was in etwa den Zahlen des Vorjahres entspricht. Der Verlag Old Lion meldet einen Anstieg von 10–15 % gegenüber 2022 (110 neue Titel im Jahr).

Viele andere Verlage haben ihre Vorkriegszahlen dank neu aufgelegter Titel aus den Verlagskatalogen teilweise wieder erreicht. Einer der Gründe dafür ist die Notwendigkeit, "leere" Nischen zu füllen, die durch russische Übersetzungen frei geworden sind (das Vorhandensein russischer Übersetzungen hat den Absatz ukrainischer Übersetzungen oft erheblich reduziert oder solche Veröffentlichungen unmöglich gemacht).

"Früher hielten wir das Jahr 2022 für rekordverdächtig, was Nachdrucke angeht, aber es ist, als hätten wir noch nicht im Jahr 2023 gelebt, denn in diesem Jahr kamen wir auf 18 Nachdrucke früherer Ausgaben aus verschiedenen Jahren ", schreibt Oleksiy Zhupanskyi, der Leiter des Zhupanskyi-Verlags.

Die Rückkehr von Offline-Veranstaltungen und die Entstehung neuer Buchmessen

Das diesjährige internationale Festival "Book Arsenal" hat trotz seines begrenzten Formats die Wiederbelebung anderer großer literarischer Veranstaltungen angeregt. In den letzten sechs Monaten haben zahlreiche Festivals und Messen stattgefunden, nicht nur im Westen des Landes (wie das BookForum in Lemberg oder das Literaturfestival Тranslatorium), sondern auch im Süden (wie das Meridian Odessa Festival), und neue sind entstanden, darunter das Kiewer Bücherfest, das an drei Tagen 25.000 Besucher anlockte, und das Kiewer Bücherwochenende.

"Die Veranstaltung des Bücherarsenals hat gezeigt, dass es Leser gibt, die ihr Interesse an Büchern aufrechterhalten – genauso wie vor der umfassenden Invasion. Die Tatsache, dass das Festival stattgefunden hat, hat die Möglichkeit eröffnet, weitere Veranstaltungen durchzuführen", sagt Oleksiy Erinchak, Gründer der Buchhandlung Sense.

Übersetzungsrechte

Die Direktorin des ukrainischen Buchinstituts, Oleksandra Koval, weist darauf hin, dass im Jahr 2023 mehr als 130 Übersetzungen ukrainischer Bücher in Fremdsprachen erschienen sind (60 wurden im Rahmen des Programms „Translate Ukraine“ im Ausland veröffentlicht). Im Jahr 2022 erreichte die Zahl der verkauften Rechte nach Angaben des Ukrainischen Buchinstituts die Rekordzahl von 230 Verträgen. Das Verlagshaus Old Lion unterzeichnete 77 Verträge für Bücher ukrainischer Autoren in 29 Ländern. Ranok nennt 59 Verträge, was weniger Aufmerksamkeit ausländischer Verlage als im vergangenen Jahr bedeutet, als der Verlag 78 Lizenzen in 26 Länder weltweit verkaufen konnte.

Herausforderungen des Jahres

Unvorhersehbarkeit. Krieg trägt nicht zur Stabilität bei. "Jeder Tag ist eine neue Herausforderung; es ist schwer, die 'größte' zu bestimmen. Im Moment besteht die neue Herausforderung darin, eine Verbindung zu Kyivstar zu finden", sagt Anton Martynov, Gründer des Verlags "Laboratory", mit Blick auf den russischen Hackerangriff auf den ukrainischen Mobilfunkbetreiber.

Mangel an qualifizierten Fachkräften und Verlust von Leserinnen und Lesern durch Auswanderung. Um das Interesse der im Ausland lebenden Leser:innen an Büchern in ihrer Heimat aufrechtzuerhalten, bemühen sich Verlage und Buchhandlungen, die komfortabelsten Dienstleistungen, Werbeaktionen und Veranstaltungen wie Buchvorstellungen anzubieten und gleichzeitig Maßnahmen zu ergreifen, um Fachkräfte in den entsprechenden Bereichen anzuziehen.

Übersetzungsprobleme. Der Vivat Verlag sieht die größte Herausforderung darin, professionelle Übersetzer für die Arbeit mit übersetzten Titeln zu finden: "Zum ersten Mal haben wir auf dem Buchmarkt eine Situation, in der sich Schlangen für gute Übersetzer bilden." Außerdem ist der Erwerb von Übersetzungsrechten aufgrund von Beschränkungen bei der Bezahlung von Dienstleistungen und Waren, die nicht als kritische Importe eingestuft werden, komplizierter geworden.

Wettbewerb in allen Bereichen. Die Einstellung von Buchhandels- und Verlagspersonal, die Suche nach Übersetzer:innen, die Veröffentlichung eines Buches angesichts der Warteschlangen in den Druckereien und sogar der Erwerb der Rechte an einem Manuskript eines ukrainischen Autors - das sind die Hauptprobleme, mit denen die ukrainische Verlagsbranche heute konfrontiert ist. "Der Wettbewerb hat ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht", sagt Viktor Kruglov, der beim Ranok Verlag mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert war.

Ukrainischer Gemeinschaftsstand bei der Frankfurter Buchmesse 2023

Was ist das Ergebnis?

Einerseits streben die Verlage danach, mindestens das Leistungsniveau von 2021 zu erreichen, was einigen sogar gelingt. Vor dem Hintergrund des Krieges werden Investitionen in die eigene Entwicklung, den Aufschwung oder in den Konkurrenzkampf um die Lesenden als wichtiger denn je empfunden.

Andererseits ist der Preis, den wir täglich für das Privileg des Daseins, des Schreibens und des Publizierens zahlen, in Bezug auf das Ergebnis unermesslich hoch. Gleichzeitig hindert uns der Preis dieser täglichen Verluste daran, dass wir einen Schritt zurückgehen, und zwingt uns, mit gesteigerter Hingabe, Aktivität und Effizienz zu arbeiten.

Zur Autorin

Iryna Baturevych ist Redakteurin des unabhängigen ukrainischen Buchmarkt- und Literaturmagazins "Chytomo". Die Recherche wurde im Rahmen des Projekts "Fragility of Creators" durchgeführt, das vom Goethe-Institut in der Ukraine mit Unterstützung der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) umgesetzt wurde. Der Artikel wurde dem Börsenblatt in einer englischen Version zur Verfügung gestellt und von der Redaktion ins Deutsche übertragen.