Interview mit Katharina Raabe, Suhrkamp

"Wir haben die Mittel, um die unerträglichen Ereignisse in der Ukraine zu thematisieren"

1. Dezember 2022
von Michael Roesler-Graichen

Mitte November haben 70 Intellektuelle in einem Appell die deutsche Öffentlichkeit dazu aufgerufen, jetzt der Ukraine zu helfen, diesen Kriegswinter zu überstehen. Mitinitiatorin Katharina Raabe, Lektorin für Osteuropa bei Suhrkamp, über Wege, wie Buchhandlungen und Verlage dazu beitragen können.

Katharina Raabe, Mitinitiatorin des Aufrufs "Der Ukraine helfen, diesen Kriegswinter zu überstehen!"

Nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gab es auch in der Buchbranche zahlreiche Unterstützungsaktionen, zum Beispiel für geflüchtete Kinder. Was können Verlage und Buchhändler:innen jetzt tun, um den in der Ukraine lebenden Menschen über den Winter zu helfen?
Weiterhin Bücher verkaufen und dafür sorgen, dass die Aufmerksamkeit nicht nachlässt. Sie sollten den ukrainischen Autor:innen und Illustrator:innen in den Buchhandlungen eine breitere Bühne bieten, um ihre kreative Kraft sichtbar zu machen, wie Daniela Filthaut vom Gerstenberg Verlag seit Beginn des Krieges immer wieder vorgeschlagen hat. Das kann intensiviert werden, zumal die Verlage in den letzten Monaten eine Fülle neuer Titel auf den Markt gebracht haben, der allgemeinen Krise, den steigenden Papierpreisen und sinkenden Umsätzen zum Trotz. Buchhandlungen könnten sich mit einem der vielen Hilfsprojekte zusammenschließen, die Generatoren in die Ukraine bringen.

Wie kann die Buchbranche dazu beitragen, den von Ihnen mitinitiierten Hilfsappell stärker in die Gesellschaft hineinzutragen?
Buchkäufer und Buchleser sind nachdenkliche, einfühlsame Menschen und viele von uns, die in den Verlagen arbeiten, erkennen, was für ein Instrument wir in der Hand haben, um die unerträglichen Ereignisse zu thematisieren und zu verarbeiten. Vom Kinderbuch bis zum historischen Sachbuch, vom Lyrikband bis zu Romanen, von der Fotoreportage bis zum Tagebuch – es gibt inzwischen erfreulich viele Bücher zur Ukraine, die sich gut im Schaufenster machen oder sich auf Büchertischen präsentieren lassen, mit blaugelben Einlegern und einer persönlichen Empfehlung versehen.
Der Appell gegen die Ukraine-Fatigue ruft zu dezentralen Aktionen in der ganzen Gesellschaft auf, die vom 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, bis zum 24. Februar 2023, dem ersten Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine, laufen sollen. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt: man kann ein Buch der Woche an der Kasse platzieren oder einen Glühweinstand vor den Laden stellen, mit blaugelber Spendenbüchse und einer Einladung. Etliche Autorinnen und Autoren sind während dieser Wochen zu kostenlosen Lesungen, Informationsrunden und Gesprächen bereit. Ich vermittle gern. 

Der Appell gegen die Ukraine-Fatigue ruft zu dezentralen Aktionen in der ganzen Gesellschaft auf, die vom 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, bis zum 24. Februar 2023, dem ersten Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine, laufen sollen.

Katharina Raabe

Können Autorenlesungen und Literaturfestivals zur Ukraine für mehr Aufmerksamkeit und Empathie sorgen?
Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse gab es an zahlreichen Orten enorm informative, packende, bewegende Diskussionen mit Autoren, Journalistinnen und Menschenrechtsaktivistinnen aus der Ukraine. Als die Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matviichuk sprach, liefen einem alten Herrn, der neben mir saß, die Tränen über die Wangen. Ich hatte den Eindruck, das Publikum lernt und begreift bei diesen Begegnungen viel mehr als in all den Monaten des Medienkonsums. Zurzeit läuft das Münchener Literaturfestival, der Publikumszuspruch bei den Ukraine-Veranstaltungen ist sensationell. Kuratiert wird dieser Schwerpunkt von der der in Wien lebenden ukrainischen Autorin Tanja Maljartschuk, Bachmannpreisträgerin des Jahres 2018.

Wie könnte man mehr Nähe zu den in der Ukraine lebenden Autorinnen und Autoren herstellen?
Darüber bin ich in Gesprächen. Für internetaffine Buchhändlerinnen ließen sich persönliche Briefe von Autorinnen und Autoren, die auf Facebook schreiben, übersetzen – fünf, sechs pro Woche. Vielleicht ließe sich auch eine Youtube-Plattform einrichten, über die Spendenaufrufe gepostet werden. Ferner sind Lesekreise, auch mit Übersetzerinnen oder anderen kompetenten Leuten, eine schöne Form, sich den Büchern der Autoren anzunähern – manche lassen sich bestimmt auch gern per Zoom dazuschalten.

Kann die gezielte Lektüre ukrainischer Literatur und von Sachbüchern über die Ukraine dabei helfen, sich einem Land im Kriegszustand mental zu nähern?
Zweifellos. Seit Kriegsbeginn erfreuen sich ukrainische Bücher einer beständigen Nachfrage, einige Titel wie Serhij Zhadans "Himmel über Charkiw" sogar in einer völlig unerwarteten Dimension. Der Suhrkamp Verlag publiziert seit fast 20 Jahren kontinuierlich Bücher aus der Ukraine und über die Ukraine. Jetzt mussten wir selbst Titel aus den Jahren 2014, 2015 mehrfach nachdrucken. Es ist tragisch, dass ein breites Interesse an diesem Land erst erwacht ist, seit es sich Russlands Vernichtungskrieg entgegenstemmt. Plötzlich wird eine Gesellschaft kenntlich, die entschlossen ist, für die Freiheit und Souveränität ihres seit 1991 unabhängigen Staates zu kämpfen. Was sind das für Menschen, die friedlich und gut leben wollen wie wir auch und die jetzt dieser erbarmungslosen Destruktion ausgesetzt sind? Wie konnte es so weit kommen? In den Büchern finden wir Antworten auf diese Fragen.

Der Aufruf zur Unterstützung der Ukraine

Der Text des Aufrufs ist über den Download-Link zugänglich.