Offener Brief: Autor*innenkollektiv fordert vielfältigeren Literaturbetrieb

"Wir möchten den Klang aller Sprachen erfassen"

4. Oktober 2021
von Börsenblatt

Angelehnt an John Lennons "Imagine": Das internationale Autor*innenkollektiv foundintranslation träumt in einem offenen, mehrsprachigen Brief, der am 3. Oktober veröffentlicht wurde, von einem vielfältigeren, inklusiven Literaturbetrieb, der mehr Sichtbarkeit für unterschiedliche Sprachen und Perspektiven schafft.

Der offene Brief geht der Mitteilung zufolge aus WESTOPIA – Festival für eine mehrsprachige Literatur der Zukunft hervor, das vom 1. bis 5. September vom Center for Literature (CfL) auf Burg Hülshoff veranstaltet wurde. Das Festival beschäftigte sich mit den toten Winkeln des Literaturbetriebs, der die Vielfalt und Vielschichtigkeit einer mehrsprachigen und multiperspektivischen Gesellschaft nicht abbilde, und der Frage, wie eine inklusive Literaturlandschaft zukünftig aussehen könne.

Gefordert wird von foundintranslation etwa eine Erneuerung der Förderstrukturen, hin zu mehr Flexibilität. Weiter mutigere Veranstaltungs- und Vermittlungskonzepte, eine diversere Besetzung von Jurys und Sichtbarkeit für Literatur, die in anderen Sprachen als Deutsch geschrieben ist. Zudem mehr Gemeinschaftssinn, Dialog und Zugänglichkeit – für einen mehrsprachigen, vielstimmigen und inklusiven Literaturbetrieb.

Der offene Brief, der am 3. Oktober auf 54books veröffentlicht wurde, im Wortlaut:

Dear Literaturbetrieb,

Imagine the literature of a country whose borders are fictions. Imagine a literary scene where competition is imbued with empathy. Where every mother tongue is honoured as a mother. Where common sense is our common ground and translation our common tongue.

Do you remember? That was our destination, but the world has a way of imposing itself, covering complex depth with forgetful surfaces. Can we find our way back to a place yet to be discovered?

Für uns, beginnt die Utopie im Publikum. Wir erträumen einen Raum, groß und schillernd, der nicht nur eine Welt abbildet. Eine Welt mit vielen Weltchen. Die Rampe zur Bühne gibt es nicht. Da ist Nähe, da ist Augenhöhe, da ist der Mut, selbst auch auf die Bühne zu gehören.

We wouldn’t judge a book by its cover — but a publisher if the translator’s name is omitted from its cover.

Wir sehen die Bühne nicht als Repräsentationsfläche, sondern als Präsentationsfläche.

Lieber Literaturbetrieb, we still love you, but we no longer find you attractive.

Bitte, wechselt die Positionen. Wechselt häufiger Jurypositionen. Bezahlt Juryarbeit besser. Besetzt nicht die Jurys mit den immer gleichen Gesichtern. Neue Gesichter, neuere Literaturformen, neueres Publikum. 

Wir möchten den Klang aller Sprachen auf der Bühne erfassen. A través de la música de la lengua extranjera, to acknowledge that a world-view different to ours is possible. Wir möchten uns ins Nichtverstehen verlieben. 

What does "Deutsche Literatur" even mean?

Si los lenguajes de las minorías en nuestro país son islas, que sean las islas a las que queremos viajar.

Dearest, Literaturbetrieb, why so serious? Wir fordern mehr Quatsch. 

Wir wollen flexible Förderanträge ohne modischen Buzz: Antragsprosa has left the meeting.

Who takes care of the carers? Wir fordern Förderung mit Fürsorge. This means, liebe Kulturförderungen, that we take the expenses of partners and family members into account: family-friendly grants and residencies. And do try not to get bogged down in unnecessary details — let us take care of the writing, acknowledging that all creative work is the work of a community, even if through a single person writing in solitude.

Lieber Literaturbetrieb, uns fehlt der Dialog auf der Bühne. Der wahrhaftige Dialog, der die Frage nach Autofiktion übertrifft. Wir möchten in den Bann gezogen werden.

Bücher sind unsere Zufluchtsorte, wir möchten, dass Bühnenräume und Literaturhäuser auch Zufluchtsorte werden.

We recognise that, by definition, any language that serves as an international lingua franca oppresses the tongues that exist in the margins. However, a Kajetian approach encourages us to accept the paradox, ‘to embrace the English language as a tool’ for spreading knowledge and tweaking the cultural discourse. The wise expenditure of such energies requires common ground. 

Let’s take translation as our model, reminding us that no identity, language or culture can ever be separated from its foreignness. Let’s remain open-minded, taking translation as our ever better-failing model for solidarity.

Dearest Literaturbetrieb, your map no longer corresponds to the territory. But that doesn’t mean we can’t find our way. It just means the journey may take a little longer, so consider it a scenic route. Don’t despair. We have time and the best of company.

Wanting you to be ours,

foundintranslation

Über foundintranslation

foundintranslation sind: die Autor*innen Tomás Cohen, Annika Dorau, Hugh James und Nefeli Kavouras. foundintranslation setzt sich nach eigenen Angaben seit 2014 für eine Dynamisierung der Hamburger Literaturszene ein, um sie zu einem Ort der Begegnung neuer Autor*innen, Nationen und Generationen mit ihrem Publikum zu machen, und veranstaltet unter anderen die internationale, mehrsprachige Lesereihe Hafenlesung.

WESTOPIA ist Teil des Projekts "The White White West?" und  wird gefördert von der Kulturstiftung des Bundes, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, sowie durch die Kunststiftung NRW und das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW.

Infos unter: www.burg-huelshoff.de

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