Börsenblatt Young Excellence Award 2025

Norma Schneider: Spezialistin für schwierige Fälle

30. Juni 2025
Veronika Weiss

 

Als Lektorin, Journalistin und Autorin arbeitet Norma Schneider mit Texten, manchmal auch mit schwierigen oder heiklen. Besonders interessiert sie die Themen Queerfeindlichkeit und Osteuropa. Das hat schon zu mehreren Buchprojekten geführt. Norma Schneider ist beim #yeaward25 nominiert.

Norma Schneider

Norma Schneider

Textarbeiterin

Norma Schneider hätte den Einstieg in diesen Artikel viel besser formuliert. Sie ist routinierte Journalistin, Autorin, Lektorin – Textarbeiterin. Außerdem ist sie als Vortragende, Kritikerin und Kulturvermittlerin tätig. Ihre Kernthemen erscheinen auf den ersten Blick etwas sperrig: Queerfeindlichkeit, Antifeminismus, Sub-, Gegen- und Popkultur, Protest, Regimekritik, Zensur, Propagandanarrative, die Neuen Rechten.

Kaum hat man sich aber auf einen von Norma Schneiders Texten eingelassen, stellt man fest: Sie versteht es, komplexe Sachverhalte gut verständlich aufzubereiten. Besonders bekannt ist sie für ihr Werk "Punk statt Putin" (Ventil Verlag), in dem ihr das bestens gelingt: Es geht um Gegenkultur, Widerstand und queere Lebenswelten in Russland.

Tief einsteigen und zugänglich machen

Ihre Leserschaft profitiert davon, dass sie sich mit diesen Problematiken bereits seit Jahren beschäftigt, dass sie diese komplexen Fragen durchdringen will; leicht gemacht hat es sich Norma Schneider noch nie.

Als Pussy Riot 2012 vor Gericht standen, wollte sie mehr erfahren über Protest, Feminismus und Punk in Russland, und musste feststellen, dass es dazu auf Deutsch oder Englisch kaum etwas zu lesen gab. Also beschließt sie, selbst zu recherchieren. Bald beginnt sie, Russisch zu lernen. Und das ist auch, "anekdotisch gesprochen", wie sie sagt, der Anfang ihrer Auseinandersetzung mit Queerfeindlichkeit. Ihr Tandempartner ist jung und weltoffen, dabei aber merkwürdigerweise homofeindlich. Schneider erklärt ihm viel, will aber auch verstehen, wo diese Einstellung herkommt. Also beschäftigt sie sich damit, auf welche Weise das Thema Queerness in Russland gesellschaftlich stattfindet. Immer tiefer steigt sie ein, recherchiert russische Protestkultur und Propagandanarrative, bleibt über Jahre hartnäckig.

Bis 2023 "Punk statt Putin" im Ventil Verlag erscheint. Norma Schneider war überzeugt, ein Nischenthema gewählt zu haben, doch: "Als das Buch herauskam, war die Aufmerksamkeit sehr groß. Es gab ein Bedürfnis, sich damit zu beschäftigen, wie es den Oppositionellen in Russland geht. Ich wurde häufig fürs Radio interviewt, habe ein Porträt in der 'F.A.Z.' bekommen – das war schon ziemlich schick." Nach wie vor wird sie im Zusammenhang mit "Punk statt Putin" zu Vorträgen und Diskussionen eingeladen und thematisiert dann aktuelle Entwicklungen, im Weltpolitischen wie im Persönlichen: "Selten sind gute Nachrichten zu vermelden – aber manchmal doch: Eine der Künstlerinnen, die ich im Buch erwähne, die damals in Haft war, ist mittlerweile durch einen Gefangengenaustausch freigekommen."

Als das Buch herauskam, war die Aufmerksamkeit sehr groß. Ich wurde häufig fürs Radio interviewt, habe ein Porträt in der 'F.A.Z.' bekommen.

Als Freiberuflerin immer mehrere Eisen im Feuer

Aktuell schreibt sie an zwei weiteren Buchprojekten. Das eine wird ein Band für die "100 Seiten"-Reihe bei Reclam, im anderen, das 2027 im Verbrecher Verlag erscheinen wird, geht es um queeres Leben und Queerfeindlichkeit im sogenannten postsowjetischen Raum. Finanziell ermöglicht ihr das eine Förderung für drei Monate Schreibarbeit, die sie im Winter antreten wird. Die Autorschaft betrachtet Norma Schneider als ihren Lieblingsberufszweig, doch besonders als Journalistin ist es finanziell schwer: "Man bekommt nicht annähernd die Arbeitszeit bezahlt."

Kurz träumt sie: "Wenn ich ein bedingungsloses Grundeinkommen hätte, würde ich mehr schreiben als lektorieren. Aber ich könnte auch nicht nur schreiben. Ich lektoriere gerne und hab immer das Gefühl, das sind unterschiedliche Bereiche im Gehirn, die da in Anspruch genommen werden."

Ich könnte nicht nur schreiben. Ich lektoriere gerne und hab immer das Gefühl, das sind unterschiedliche Bereiche im Gehirn, die da in Anspruch genommen werden.

 

Hauptjob Lektorat

Über Lektorate generiert sie derzeit ihr Haupteinkommen. Zuletzt betreute sie den letzten Band der "Brautbriefe" von Sigmund Freud und Martha Bernays für S. Fischer. Ein besonders bereicherndes Projekt für dasselbe Haus hebt sie hervor: Jos Versteegens "Hans Keilson – Immer wieder ein neues Leben", die Biografie des als Jude verfolgten deutschen Schriftstellers, der in die Niederlande flüchtete, übersetzt von dessen fast 90-jähriger Witwe Marita Keilson-Lauritz. Nach anfänglichen Meinungsverschiedenheiten hätten die Übersetzerin und Norma Schneider sich "eingegroovt, haben eine Arbeitsweise gefunden, die für uns funktioniert hat – und am Ende war sie ganz begeistert und hat mich so mit Lob überschüttet …" Das Vertrauen der alten Dame zu gewinnen, habe ihr viel bedeutet.

Über einen langfristigen Auftrag für den S. Fischer Verlag sei sie auch in die Selbstständigkeit reingerutscht, sagt Norma Schneider: Nach ihrem Studienabschluss habe sie auf freiberuflicher Basis intensiv an der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns mitgewirkt. Durch ihre akribische Arbeit erlangte sie dabei den Ruf, die Frau für schwierige Fälle zu sein. Bis heute werden ihr Lektorate überlassen, bei denen sie außergewöhnlich viele Fakten und Namensschreibweisen prüfen muss – "wo ich den ganzen Tag am Googeln bin", spielt sie es herunter.

Komfortzonen? Uninteressant.

Und ihr Werdegang? Norma Schneider murmelt, "dass ich immer schon Bücher geliebt hab …", und lacht angesichts dieser vermeintlichen Banalität. Aus tiefem Interesse studiert sie Philosophie, Soziologie und Germanistik und lässt sich dabei Zeit. Gleich zu Beginn belegt sie ein Seminar zur "Dialektik der Aufklärung" von Adorno und Horkheimer: "Ich habe nichts verstanden und beschlossen: Wenn ich hier fertig bin, hab ich’s verstanden." So ist sie – sie schreibt einige Jahre später tatsächlich ihre Abschlussarbeit über die "Dialektik der Aufklärung", Abschlussnote 1,0.

Dass das Lektorieren ihr liegt, wird ihr während eines Praktikums im Ventil Verlag bescheinigt, und beim Radio-Praktikum bei hr2 hat sie große Freude an der journalistischen Arbeit, aber es zeigt sich auch, dass das Audioformat ihr nicht ganz so lieb ist wie das Schreiben.

Eigentlich wollte sie mal zum Theater. Sie erzählt, dass sie die einjährige Regiehospitanz am Schauspiel in Frankfurt eines Besseren belehrt hat: "Ich fand das eigentlich toll, aber am Ende war ich sehr ernüchtert von den Arbeitsbedingungen und davon, dass es so ein geschlossenes System ist: Die Leute, die am Theater arbeiten, kommen dort gar nicht raus! Das ist doch traurig: Man will ganz viel erzählen über die Welt, aber man sieht die gar nicht, weil man 24 Stunden am Theater verbringt und immer nur in dieser Bubble hängt."

Die Leute, die am Theater arbeiten, kommen dort gar nicht raus! Das ist doch traurig: Man will ganz viel erzählen über die Welt, aber man sieht die gar nicht.

Frei sein

Norma Schneider empfindet das Gegenteil: Sie will die Welt sehen. "Wenn’s eine Chance gibt, mal woanders zu sein, dann will ich die wahrnehmen können." Ihre Selbstständigkeit schenkt ihr Freiheiten, die sie intensiv nutzt: Im September 2022 hat sie eine organisierte Recherchereise zum Thema Rechte queerer Menschen und Frauen in Georgien mitgemacht, ein Jahr später war sie als Stipendiatin des CCP-Fellowships für drei Monate in Zentralasien, machte ein Praktikum bei einer LGBTQ-Organisation in Kirgistan.

"Die haben sich gewünscht, dass ich einen langen Artikel schreibe über die Lage queerer Menschen dort. Sie sagten, ihre einzige Chance, Unterstützung zu bekommen, sei durch Leute im Ausland." 2024 war Schneider Journalist in Residence des Goethe-Instituts in Litauen, wo sie ebenfalls viele spannende Gespräche mit queeren Menschen führte und von der Pride-Parade in Vilnius berichtete.

Wenn’s eine Chance gibt, mal woanders zu sein, dann will ich die wahrnehmen können.

Faszinierend: Queere Identitäten unter widrigsten Umständen

Eindringlich beschreibt sie, was sie erlebt hat: "Ich sehe, dass Leute unter den widrigsten Umständen, unter den größten Repressionen in der queerfeindlichsten und unterdrückerischsten Umgebung wahnsinnig viel auf die Beine stellen. Leute bauen Communitys auf, Safe Spaces, sei es für queere oder andersdenkende Menschen in autoritären Regimes. Die Leute gehen ein großes persönliches Risiko ein. Aber überall gibt es Räume. In Kirgistan gibt es einen queeren Club, und da steht die Adresse nicht im Internet, sondern man muss nachfragen, wo der ist. Immer wieder finden Polizeirazzien statt, aber jeden Tag machen die auf, jeden Tag sind die da, jeden Tag gehen die Leute da tanzen."

Es gäbe einem wahnsinnig viel Mut und Hoffnung, dass sich viele Menschen nicht verstecken. Viele posten sogar in den Sozialen Medien. Auch für Schneiders Russisch-Lehrerin, die in Kyjiw wohnt und sie online unterrichtet, geht das Leben trotz Krieg und permanentem Luftalarm weiter. Schneider ist einfühlsam: "Ich spreche das nicht so viel an, weil ich denke, sie hat genug damit zu tun, damit klarzukommen. Wir reden eher über die größeren Zusammenhänge, etwa: Was bedeutet Trump für das Ganze?" Einmal ist ihre Lehrerin bereits nach Frankfurt gereist. "Wir waren zusammen in Deutschlands ältester Lesbenbar in Frankfurt, im La Gata aus den 70ern."

Über ihre eigene Queerness spricht Norma Schneider nur am Rande: "Ich hab sehr lange nicht gedacht, dass ich queer bin. Heute verstehe ich mich als pansexuell, vielleicht aromantisch. Für mich selbst ist das Label nicht ganz klar und auch nicht notwendig zu definieren, das ist mir nicht wichtig." Für viele andere, kommt sie wieder aufs Gesamtgesellschaftliche zu sprechen, seien Labels für die eigene Identität entscheidend. Gleichzeitig sei das Sprengen von Labels und das Ablehnen von Kategorien auch ein Thema; "diese Spanne finde ich wahnsinnig interessant, das ist eben kein Entweder-oder".

Noch eine Begebenheit aus dem unterdrückerischen Russland schildert sie: "Für mein Buch habe ich mit einem Journalisten gesprochen, der wollte, dass ich ihn mit seinem richtigen Namen zitiere – und dass ich ihm ein Exemplar des Buchs nach Russland schicke. Der Verlag und ich waren sehr skeptisch, ob das eine gute Idee ist …" Doch der Mann kennt einen Trick, wie Sendungen ihn erreichen können, ohne dass seine Privatadresse draufsteht. "Und das hat tatsächlich funktioniert", wundert sich Norma Schneider noch immer: "In Russland ist ein Exemplar von 'Punk statt Putin' gelandet. Schon irre."

Kurzvita

Norma Schneider
2008-2009 Regiehospitanz Schauspiel Frankfurt
2009-2017 Studium Goethe-Universität Frankfurt: Philosophie, Soziologie, Germanistik
2010-2015 Universität Frankfurt: Tutorin, Studentische Hilfskraft
2011 Deutschlandstipendium
2011-2012 Erasmus in Dublin
2013 Praktikum beim Ventil Verlag
2014 Praktikum bei hr2
2014-2016 Tätigkeit als Übersetzerin Englisch-Deutsch
2015-2017 Freie Korrektorin
Seit 2017 Freie Lektorin und Journalistin
2023 Praktikum mit CCP-Fellowship in Kirgistan
2023 "Punk statt Putin. Gegenkultur in Russland" erscheint im Ventil Verlag
2024

Journalist in Residence fürs Goethe-Institut in Litauen

 

Über den Börsenblatt Young Excellence Award 

Der Börsenblatt Young Excellence Award ehrt herausragende Persönlichkeiten bis 39 Jahre, die in der Buchbranche etwas bewegen – sei es in einer Buchhandlung, im Verlag, bei einem Dienstleistungsunternehmen oder in Selbständigkeit. Das Fachmagazin Börsenblatt vergibt die Auszeichnung zusammen mit den Unternehmen der Börsenvereinsgruppe: Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Frankfurter Buchmesse, Mediacampus Frankfurt und MVB. Die future!publish unterstützt den #yeaward25 als Partner. 10 Young Professionals sind nominiert: www.young-excellence-award.de