Interview mit Aslı Erdoğan

"Das Buch hat mein Schicksal geschrieben"

7. Mai 2019
von Börsenblatt
Ihre Bücher wurden gerade aus den Universitätsbibliotheken in der Türkei entfernt, immer noch läuft ein Verfahren gegen sie in der Türkei − eine Anklage gibt es nicht. Die Schriftstellerin Aslı Erdoğan spricht über das Trauma ihrer Inhaftierung und Zukunftsängste.

Seit zwei Jahren lebt die türkische Schriftstellerin Aslı Erdoğan in Deutschland. In ihrem Heimatland, der Türkei, war sie 132 Tage in Haft. Dort läuft noch immer ein Verfahren wegen terroristischer Propaganda gegen sie. Gemeinsam mit acht weiteren Journalisten, Menschenrechtlern und Verleger, die für die kurdisch-türkische Zeitung "Özgür Gündem" gearbeitet haben, wartet sie auf ein Ende des Prozesses, der sich schon über 30 Monate hinzieht. In ihrem zuletzt ins Deutsche übersetzten, poetischen Werk "Das Haus aus Stein" (Penguin Verlag) über die berüchtigte Haftanstalt Sansaryan Han sucht sie auch in einem für diese Ausgabe hinzugefügten Essay über ihre eigene Haftzeit Worte für das Trauma.

Sie haben gerade erfahren, dass Ihre Bücher aus jeder Universitätsbibliothek in der Türkei entfernt wurden – wie ordnen Sie diese Nachricht ein?
Es ist eine Schande. In der Türkei gibt es nicht viele Schriftsteller, vor allem nicht viele Schriftstellerinnen, die international erfolgreich sind. Indem die türkische Regierung die Bücher aus der Bibliothek entfernt, zeigt sie nicht nur Respektlosigkeit, sondern auch, dass sie Literatur nicht ertragen kann. Das ist ein alarmierendes Zeichen für die heutige Türkei. Wir alle verbinden Faschismus mit dem Verbot und der Verbrennung von Büchern – mit diesen prägenden Bildern aus dem damaligen Nazi-Deutschland. Das Entfernen der Bücher zeigt, dass sie schon zu weit in Richtung eines faschistischen Regimes vorgestoßen sind. Aber das sollte sie beunruhigen, nicht mich. Mit "sie" meine ich die türkische Regierung, denn solche Informationen werden der Öffentlichkeit in der Regel vorenthalten. Selbst auf Nachfrage kommentiert oder leugnet die Regierung ihre Aktionen nicht. Die Tatsache, dass meine Bücher in 19 Sprachen übersetzt wurden, zeigt mir jedoch, wie mächtig Literatur ist, weil sie [damit] so viele Hindernisse kulturellen Rassismus überwunden hat.

Was bedeutet es für Sie, dass Ihr Buch "Das Haus aus Stein" gerade hier in Deutschland veröffentlicht wurde – in dem Land, in dem Sie seit 2017 im Rahmen von "Stadt der Zuflucht" (Teil des ICORN International Cities of Refuge Netzwerks) leben?
Ich war begeistert als meine erste Übersetzung 2003 auf Französisch veröffentlicht wurde, denn als Schriftstellerin in der Türkei wurden viele Vorurteile gegen mich erhoben – für oder gegen mich. Hier in Deutschland haftet mir das Image der Schriftstellerin, die im Gefängnis war, an. Sonst aber scheinen deutsche Leserinnen und Leser, die mein Buch zum ersten Mal kaufen, viel weniger Vorurteile zu haben. Ich sehe die deutsche Publikation gewissermaßen als neuen Test, als eine Herausforderung, auch weil ich die deutschen Literaturkritiker sehr ernst nehme. Wenn die deutschen Rezensenten dein Buch verreißen, ist das ein schwerer Schlag. Davon kann man sich nicht mehr erholen. Schreiben sie aber etwas solides, dann kann man davon lange zehren. Die Tatsache, dass das Buch der deutschen Literaturszene gefallen hat, gibt mir also Selbstvertrauen. Amerikanische Rezensionen hingegen kann ich nicht ernst nehmen – ich finde sie oft zu oberflächlich.

Bei Ihrer Lesung im Litprom Weltempfänger-Salon vor einem Monat in Frankfurt haben Sie darüber gesprochen, "eine Sprache für das Trauma" finden zu wollen – wie schwer ist es für Sie, das Trauma literarisch einzufangen?
Mein Buch Das Haus aus Stein ist wie eine Wolke – nichts ist klar sichtbar. Das entspricht der Art und Weise, wie meine Erinnerung das Trauma des Gefängnisaufenthaltes aufgezeichnet hat. Vor kurzem traf ich hier in Deutschland eine Freundin aus dem Gefängnis. Es war das einzige Mal in meinem Leben, dass ich jemanden, den ich im Gefängnis kannte, "draußen" wiedergetroffen habe. Diese Freundin konnte sich nicht mehr an ihre Zellennummer erinnern. Das zeigt mir, dass das Gedächtnis seine eigene Sprache hat. Ich denke, in diesem Sinne war das Buch recht erfolgreich. Doch der Text ist kein Triumph – wenn überhaupt ist er ein Geständnis des Scheiterns. Ein Satz im Buch beschreibt, wie ich eine Melodie höre, aber jedes Mal, wenn ich versuche, sie zu singen, schaffe ich es nicht. Der Text scheitert, weil nichts das Trauma beschreiben kann. Man kann nur versuchen, sich der Trauma-Erfahrung anzunähern, sie zu umkreisen. Die Erfahrung der Folter genau zu vermitteln, ist grundsätzlich unmöglich. Wenn du es nicht einmal zu dir selbst sagen kannst, wenn sich dein Gedächtnis weigert, die Erinnerung daran zu behalten, wie sollst du es dann anderen erzählen?

Sie haben das Buch 2009 geschrieben, sieben Jahre bevor Sie inhaftiert wurden – hat sich Ihr Verhältnis zum Text nach Ihrer Inhaftierung geändert?
Die Tatsache, dass ich sieben Jahre nach der Publikation tatsächlich im Gefängnis war, macht dieses Buch wirklich zum Buch meines Lebens. Ich komme da nicht mehr raus. Das Buch schrieb mir mein Schicksal, und jetzt muss ich es wieder neu schreiben: das Gefängnis, all das. Für den Rest meines Lebens bin ich im "Haus aus Stein", das fühle ich. Das ist es auch, was ich sagen möchte: Trauma ist nicht einfach auslöschbar, es bleibt für immer Teil von einem. Ich erinnere mich an das Gefängnis genau wie ich es in dem Buch beschreibe: eine große Wolke gespickt mit Bildern, die unauslöschlich sind. Du willst dir diese Bilder aus dem Kopf reißen, aber es geht nicht. In dieser Hinsicht bin ich mit meinem Buch im Einklang. Natürlich hätte es direkter sein können – wenn ich es jetzt schreiben würde, wäre ich an einigen Stellen offener. Aber das war eine Zeit, in der ich hauptsächlich Gedichte schrieb, eine Zeit, in der ich das Schreiben von Romanen aufgegeben hatte – und natürlich hat jedes Buch Mängel.

Was halten Sie von der Position der Europäischen Union und der deutschen Regierung gegenüber der Türkei?
Das ist eine sehr komplexe Frage. Viele Menschen hier in Europa haben uns geholfen. Deutschland selbst hat mehrere hundert Schriftstellerinnen und Akademiker aufgenommen, die in der Türkei nicht mehr sicher waren. Trotzdem: Da ist momentan eine Stille in Europa, die der türkischen Regierung viel Mut gibt. Damit meine ich nicht, dass Europa komplett schweigt, nein, das wäre unfair, aber die Nachrichten werden zu inkonsequent verbreitet. 7.000 Menschen befinden sich derzeit in türkischen Gefängnissen im Hungerstreik und in der deutschen Presse ist absolut nichts darüber zu finden – wie kann das sein? Wenn nichts darüber berichtet wird, glauben die Leute doch, dass alles vorbei ist, dabei sind die Zustände nach wie vor schlimm! Dennoch kann ich Deutschland nicht beschuldigen, ohne auf uns selbst zu schauen; und die Türken sind ebenso gleichgültig und still wie die Europäer.

Sollten die Europäer lauter gegen die Zustände in der Türkei protestieren?
Wie viel sollte ich, sollte man von Europa erwarten? Schließlich hat Europa seine eigenen Probleme, mit denen es zu kämpfen hat. Ich denke, die Flüchtlingsfrage und die daraus resultierende Zögerlichkeit Europas, eine vehementere Position gegen die Türkei einzunehmen, ist möglicherweise auch der Grund für die verworrene Nachrichtenübertragung. Europa hat Angst vor den drei Millionen Syrern in der Türkei. Und dann gibt es noch die wirtschaftlichen Gründe: Zwar würde die deutsche Wirtschaft ohne Waffenverkäufe an die Türkei nicht bankrottgehen, aber sie würde viel Geld verlieren und das will sie natürlich nicht. Ich verstehe, dass Deutschland sein demokratisches System durch eine starke Wirtschaftskraft aufrechterhalten muss, aber als Intellektuelle bin ich nun mal völlig gegen diese Idee des wirtschaftlichen Interesses. Für mich ist das Wichtigste das Menschenrecht. Also ganz vereinfacht gesprochen: Ja, Deutschland sollte lauter protestieren.

Was halten Sie davon, dass Ihr Werk oft als politische Literatur betrachtet wird?
Ehrlich gesagt, war mir nicht bewusst, dass mein Werk hier in Deutschland als sehr politisch wahrgenommen wird. Natürlich ist jede Art von Literatur politisch – es gibt keinen Unterschied zwischen politischem und literarischem Schreiben. Auch wenn du kein Wort über Politik sagst, hast du eine politische Entscheidung getroffen, indem deine Hauptfigur zum Beispiel männlich oder weiblich ist. Leserinnen und Leser können ihr Bild des Schriftstellers frei wählen. Wenn meine Leser glauben, dass ich eine politische Schriftstellerin bin, ist es ihr Recht. Wenn den Lesern die poetische Figur wiederum mehr gefällt, ist das auch in Ordnung. Trotzdem finde ich, dass es hier ein Element der Ungerechtigkeit gibt, nicht gegenüber mir, sondern gegenüber den wahren politischen Helden. Es ist fast schon ironisch; ich bin wirklich eine sehr existenzialistische, extrem poetische Schriftstellerin. Ich, eine politische Schriftstellerin? Die meisten türkischen Intellektuellen müssen laut gelacht haben! Die Idee, dass ein Schriftsteller eine Art Guru sein sollte, finde ich ohnehin schwierig. Wir haben schließlich unsere Grenzen. Tatsächlich sind Journalisten viel besser in der Analyse – ich kann vielleicht nur eine andere Sichtweise anbieten, aber das ist alles.

Vor Ihrer Karriere als Autorin haben Sie als Physikerin für CERN in Genf gearbeitet – wie bringen Sie diese beiden Welten zusammen?
Ich bin nicht die einzige Schriftstellerin mit einer naturwissenschaftlichen Ausbildung. Da ist zum Beispiel Herman Broch; oder Anton Tschechow, der Arzt war. Eine naturwissenschaftliche Ausbildung kann bereichernd sein. Ich sehe die Literatur und die Naturwissenschaft nicht als zwei getrennte Welten, da beide sehr schön und ästhetisch sein können. Ich bin ehrlich gesagt froh, dass ich nicht Literaturwissenschaft studiert habe, denn Literatur zu studieren kann gefährlich sein. Es beeinflusst den unbeschwerten Zugang zur Literatur, kann sogar hemmend wirken. Ich wünschte, ich hätte Philosophie studiert; das ist etwas, das ich noch in meinem Herzen trage.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Das "Stadt der Zuflucht"-Programm (Teil des ICORN International Cities of Refuge Netzwerks) ist auf zwei Jahre angelegt und ich habe jetzt schon Alpträume, wenn ich an die Zeit danach denke. Entweder werde ich mir ein anderes Programm suchen müssen, oder eine endgültige Entscheidung treffen, ob ich in Deutschland Asyl beantragen soll oder nicht. Die Leute denken, dass ich als berühmte Schriftstellerin unbehelligt davon bin, dass es für mich leichter ist, dabei bin ich einfach nur eine Asylsuchende. Es war naiv von mir zu denken, dass ich zurückkehren würde [in die Türkei], denn das Gericht verlängert den Prozess immer und immer wieder. Im August werden es drei Jahre sein und es gibt noch immer keine Anklage, was mich in der Luft hängen lässt. Ich weiß, die türkischen Gerichte können dieses Spiel noch zehn Jahre lang weiter spielen, wenn sie nur wollen. Aber, der Mensch ist ein Tier, das in der Lage ist, Hoffnung in der Verzweiflung zu finden; und je verzweifelter du bist, desto mehr bist du dazu fähig. Ich war so ein pessimistischer Mensch als ich die Türkei verließ, und selbst ich beginne jetzt zu denken, dass ich vielleicht zurückgehen werde, trotz allem. Aber realistisch gesehen wäre es zu gefährlich. Ich kann ihnen nicht vertrauen. Ich weiß, wenn ich zurückkehren würde, würde das oberste Gericht mich verurteilen, und dann würde ich dort festsitzen.