Geschwister-Scholl-Preis an Ahmet Altan verliehen

"Die Literatur ist mächtiger als die Tyrannei"

26. November 2019
von Börsenblatt
Der Geschwister-Scholl-Preis ist gestern in München vergeben worden - ohne den Preisträger, denn der türkische Schriftsteller und Journalist Ahmet Altan sitzt in seiner Heimat im Gefängnis. Aus der Haft schickte er eine starke Botschaft nach Bayern und in die Welt.

Was für eine Farce der Tyrannei. Weil er seine Ablehnung gegenüber Erdoğans AKP im Fernsehen öffentlich kundtat, wurde der türkische Schriftsteller und Journalist Ahmet Altan 2016 vor Gericht gestellt und verurteilt. Im Februar 2018 kam es zu einer weiteren Verurteilung durch ein Istanbuler Gericht: Altan sei ein "glaubenskämpferischer Putschist". Nur zehn Tage später verurteilte dasselbe Gericht ihn nochmals, nämlich als "marxistischen Terroristen". Im Juli dieses Jahres hob das höchste türkische Berufungsgericht die verhängte lebenslange Haftstrafe auf. Und da Altan jetzt nur noch der "Unterstützung einer Terrororganisation" bezichtigt wurde, kam er Anfang November frei. Doch schon am 11. November stand die Polizei wieder vor der Haustür und holte den Autor erneut ab. Der türkische Generalstaatsanwalt hatte gegen Altans Haftentlassung Einspruch erhoben.

Ahmet Altan hat in diesem Jahr den mit 10 000 Euro dotierten Geschwister-Scholl-Preis erhalten, der vom bayerischen Landesverband des Börsenvereins gemeinsam mit der Landeshauptstadt München vergeben wird. Zur Preisverleihung in der großen Aula der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität konnte der 69jährige nicht anreisen – selbst wenn er auf freien Fuß gewesen wäre, die türkischen Behörden hätten ihn nicht gehen lassen. Da er für die Wahrheit eintrete und die Freiheit verteidige, so die Begründung der Jury, halte er unter Einsatz seiner Person das Vermächtnis der Geschwister Scholl hoch.

Einer, der widerständig bleibt

Ausgezeichnet wurde Ahmet Altan nicht zuletzt für sein Buch "Ich werde die Welt nie wiedersehen. Texte aus dem Gefängnis" (S. Fischer). Darin zeichnet er die Geschichte seiner Verhaftung und Verurteilung nach, beschreibt den Zellenalltag, porträtiert Mithäftlinge, hält Gedanken fest, die ihn schützen und darin bestärken, gegenüber dem türkischen Polizei- und Justizapparat nicht aufzugeben, sondern widerständig zu bleiben. Ein Satz aus Ahmet Altans Buch zitierten alle Festredner, ein Satz, der die Widerständigkeit des Autors klar zum Ausdruck bringt: "Ihr könnt mich ins Gefängnis stecken, doch ihr könnt mich dort nicht festhalten. Weil ich die Zaubermacht besitze, die allen Schriftstellern eigen ist. Ich kann mühelos durch Wände gehen." Das geschriebene Wort lässt sich nicht einkerkern.

Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter fragte bei der Preisverleihung ins Publikum, was denn Literaturpreise gegen Gefängnisse bewirken könnten. Die Antwort gab er selbst: "Nun, auch sie schaffen Öffentlichkeit. Preise machen den Dissidenten sichtbar. Und Sichtbarkeit ist das Gegenteil von staatlich angeordnetem Verschwindenlassen."

Poesie aus der Enge der Gefängniszelle

Michael Then, beim Börsenverein Vorsitzender des bayerischen Landesverbands, ging in seiner Rede auch auf die literarische Qualität von Altans Buch ein: "Es ist Poesie pur, beeindruckend ob des Mutes, bedrückend wegen der spürbaren Enge der Gefängniszelle und hellsichtig, weil es zum Nachdenken jenseits von Hass und Rache anregt."

Ahmet Altan war mit seinen Romanen ein vielgelesener Autor in der Türkei – bis seine Bücher verboten wurden. Sein Buch "Ich werden die Welt nicht wiedersehen" liegt deshalb bislang nur in Übersetzungen vor und nicht in türkischer Sprache: "Und so wie es aussieht, wird es auch in nächster Zeit nicht auf Türkisch erscheinen", machte Then deutlich.

Die deutsche Journalistin und Türkeikennerin Christiane Schlötzer-Scotland hielt die Laudatio. Sie zeichnete Ahmet Altans langen Weg durch die Instanzen der türkischen Justiz genau nach. Es ist ein kafkaeskes Bild, das Schlötzer-Scotland da skizzierte, und zugleich eines, das die Zuhörer sprachlos machte: So viel staatliche Willkür...

Opfer eines Machtkampfes?

Vielleicht ist es ein Satz des Autors, der die Mächtigen in der Türkei ängstigt und zugleich tyrannisch werden lässt: "Die wirklich große Gefahr für Erdogan sind nicht die Stimmen seiner Gegner, sondern das Schweigen seiner Unterstützer." Das Hin und Her der Behörden bei Altans Inhaftierung und der Aufhebung der Urteile könnte für Christiane Schlötzer-Scotland ein ganz bestimmtes Zeichen sein: "Es ist gut möglich, dass diese Entscheidungen nicht von denselben Personen getroffen wurden. Altan ist nun womöglich Opfer eines Machtkampfes in der türkischen Justiz."

Ahmet Altans Dankesrede, vorgetragen von seiner engen Vertrauten, der Autorin Yasemin Congar, war ein leidenschaftliches Plädoyer für ein offenes, sich durch Güte und Klugheit auszeichnendes Menschsein und gegen jegliche Form von Nationalismus. Die Zeilen, die Altan zur Preisverleihung schickte, sind im Gefängnis verfasst worden. Und in seiner Gefängniszelle fühlt sich der Preisträger Sophie und Hans Scholl nahe:

"Dieser Preis hat einen Teil der diesen beiden überragenden Menschen innewohnende Kraft auch auf mein Leben übertragen und damit meine Widerstandkraft innerhalb dieser Mauern gestärkt. Dafür, dass Sie mich zu einem Teil zweier Leben machten, die mit dem Tod nicht der Vergessenheit anheimfielen, möchte ich Ihnen allen von Herzen danken. Noch einmal haben Sie mir bestätigt, dass die Literatur mächtiger ist als die Tyrannei."