Heinrich von Berenberg über Verlagsvorschauen

"Bedingungslose Abwesenheit von schlechter Laune"

24. April 2020
von Börsenblatt
Der Verleger Heinrich von Berenberg liest in Corona-Zeiten nochmals "Tristram Shandy", die "größte Abschweifungsorgie aller Zeiten", und macht sich Gedanken über seine Verlagsvorschau. In einem Newsletter erklärt er, warum er den ersten Impuls, die gedruckte Herbstvorschau ausfallen zu lassen, schnell verworfen hat. Der Text im Wortlaut:

Außerordentlich wichtig, begnadet, gefeiert

Wie viele Menschen in diesen viralen Zeiten habe auch ich, eher zufällig, tief in den Bücherschrank gegriffen, um etwas zu lesen, was man sonst vielleicht nie im Leben mehr anrührt, weil die Zeit fehlt. Und so lese ich seit Wochen jeden Morgen, wenn der Kopf frisch ist, laut die "greatest shaggydog-story in the language": Laurence Sternes "Tristram Shandy". Ich lese das Buch in einer schönen Ausgabe von 1793 (dem Französischen Revolutionsjahr, als Marie Antoinette hingerichtet wurde) – mit menschenfreundlich gedrucktem, den Fortschritt der Lektüre erleichternden Satzspiegel versehen –, obwohl ich mir schon, pedantisch notiert, am 28. August 1974 eine Penguin-Ausgabe gekauft hatte (vielleicht zur Feier des Rücktritts von US-Präsident Richard Nixon), mit absolut notwendigen Anmerkungen herausgegeben von Graham Petrie und mit einer immer noch guten, vor allem gut gelaunten Einleitung von Christopher Ricks, in der auch die oben genannte Charakterisierung zu finden ist, die in etwa bedeuten mag: "größte Abschweifungsorgie aller Zeiten", oder: "berühmtester Roman-Fleischwolf aller Zeiten", oder: "monströseste Endlosgeschichte, die je geschrieben wurde", oder: "unterhaltsamste Korinthenkackerei aller Zeiten", oder: "komischster Verkehrsunfall der Literaturgeschichte" (oder auch, humorlos wie manchmal bei Thomas Mann: "humoristische Großartigkeit"). Womit  ich bei meinem heutigen Thema wäre: unserer Verlagsvorschau.

Als der Verlag gegründet wurde, hatte ich, in einer ebenso naiven wie utopischen Anwandlung, beschlossen, keine Vorschau machen zu wollen. Ich hatte bis dahin hunderte von Vorschautexten und Kurztexten geschrieben, in denen eigentlich, so fand ich, trotz des inhaltlichen Reichtums, den zu beschreiben sie sich mühten, immer das Gleiche stand. Die vorgestellten Autoren waren groß, bedeutend, unbekannt, erfolgreich, berühmt, zu wenig beachtet, viel zu wenig beachtet, wichtig, eigenständig, begnadet, gefeiert, außergewöhnlich usw.
Die angepriesenen Bücher waren Meilensteine, innovativ, erschütternd, atemlos, grandios, scharf, schneidend, giftig, beachtlich, faszinierend, atmosphärisch dicht, packend, schockierend, realistisch, mutig, zeitgemäß, hochspannend usf. Hinzu kamen Stilblüten, die, im Eifer des verlegerischen Gefechts entstanden, das im Grunde doch recht überschaubare Arsenal an Textbausteinen, das die Erstellung einer Vorschau erfordert, auf manchmal bizarre Weise bereicherten.

Mir haben damals zum Glück ein paar verlässliche Kollegen den Kopf gewaschen und meinen ebenso verständlichen wie idiotischen Impuls beiseite gewischt. Und so bekommen Sie selbstverständlich auch von uns Halbjahr für Halbjahr unsere Verlagsvorschau, der Sie entnehmen können, was wir so vorhaben. Ein paar Besonderheiten erlauben wir uns: Kein Din-A-4-Format; kurze, groß gesetzte Texte in farbiger Schrift auf farbigem Untergrund; ausgesucht platzierte Illustrationen; auf der ersten Seite ein komplett aus dem Zusammenhang gerissenes, möglichst verrücktes Zitat aus einem der nachfolgend beschriebenen Bücher; obligatorische Unterhaltsamkeit und bedingungslose Abwesenheit von schlechter Laune. Und auf der Rückseite jedes Mal der Satz: "Berenberg – a small quality publisher", von Michael Kimmelman von der "New York Times", über dessen Zustandekommen ich Ihnen ein anderes Mal vielleicht erzähle, denn hier würde das zu einer herrlich verschlungenen Abschweifung führen, über die Laurence Sterne sich immerhin vielleicht gefreut hätte, die aber Ihrer Lust, weiter zu lesen, möglicherweise ein abruptes Ende bereiten würde.

Eigentlich ist sie immer sehr schön, diese Vorschau. Und obwohl sie auch ganz schön teuer ist – verzichten können wir auf dieses Werbemittel nicht, und wär' sie nicht mehr da, ich würde sie vermissen.  

Trotzdem: Als wir vor Wochen, der gesundheitlichen Verhältnisse wegen, etwas ins Schleudern kamen, habe auch ich kurz wieder diesen Impuls gespürt: Lass es doch! Keine teuer produzierte Herbstvorschau in diesem Jahr. Was sollen die Buchhändler damit anfangen, wenn im Herbst in ihren schwer gebeutelten Läden noch die Frühjahrsbücher rumstehen, die sie teuer bezahlen mussten und nur mit Mühe verkaufen können? Und dann kommt schon wieder einer und preist mit den bekannten Textbausteinen seine überflüssigen Bücher an?

Nach einer ganzen Reihe von Gesprächen, Telefongesprächen, E-Mail-Korrespondenzen habe ich mich eines Besseren belehren lassen. Zu meiner verblüfften Begeisterung erfuhr ich, dass manche Kollegen mit unseren Vorschauen ähnlich umgehen wie mit unseren, mit einer gewissen materiellen Werthaltigkeit produzierten Büchern. Sie verkaufen sie zwar nicht – die Vorschau kommt schließlich umsonst –, aber sie bewahren sie auf, sie legen größten Wert darauf, sie zu bekommen, mancherorts hat ein Kollege sämtliche Vorschauen seit der Verlagsgründung 2004 gesammelt. Andere wiederum begeben sich, wenn die Vorschau da ist und die Sonne scheint, auf eine Parkbank und begehen dort das Aussuchen der Bücher aus diesem heiligen Werbeutensil zum Zweck der Bestellung als Ritual.

Und die kritische Öffentlichkeit, am Schreibtisch, vor den Bildschirmen, die ihre Welt bedeuten? Auch da höre ich, dass sechs Mal so viele Reaktionen bei Erhalt einer gedruckten Vorschau kommen, verglichen mit den Reaktionen auf das per Mail verschickte Pendant.  

Ich bin beschämt, geläutert, und dankbar für den erneuten Ruf zur Ordnung. Die Vorschau wird auch in viralen Zeiten erscheinen wie eh und je, nur etwas dünner. Der eine oder andere Herbsttitel wurde aufs Frühjahr verschoben, die Backlist erscheint nur in der digitalen Version, die Auflage wurde reduziert, denn viele, auch das sei erwähnt, denen unsere Bücher überaus am Herzen liegen, haben mich ermuntert, sie dieses Mal nicht mit einer gedruckten Vorschau zu beliefern, sie könnten sich mit unserer Website und (horribile dictu) VLB-Tix behelfen.

Das hat mir auch gefallen. Schließlich ist noch die schönste Vorschau nichts als Werbung, und auch deshalb sollte man den Spott über die schwachbrüstigen Textbausteine, die man darin antrifft, nicht zu hoch hängen. Immerhin dient die eine oder andere Stilblüte ja auch der Unterhaltung.

Der Verfasser dieser Zeilen hat selbst einmal – im Stress zwischen  Drucktermin, Vertretersitzung und womöglich unter dem Eindruck einer schlechten Rezension – das folgende meiner bescheidenen Meinung nach beachtliche Exemplar fabriziert: bemüht und offenbar in großer Not, ein Buch der großartigen, genialen, bedeutenden, grandiosen, giftigen, witzigen und radikalen britischen Autorin A.L. Kennedy halbwegs adäquat zu beschreiben, ist ihm die Phrase von der "Janusköpfigkeit der zeitgenössischen Sexualität" eingefallen. Einmal durch den Wolf gedreht, könnte man auch von der "Zeitgenossenschaft der sexuellen Janusköpfigkeit" oder von der "Sexualität der janusköpfigen Zeitgenossen", oder vom "Januskopf des sexuellen Zeitgenossen" sprechen. Oder einfach – heideggerianisch – "Sex und Zeit im Januskopf". So viel zur Phrasendreschmaschine, die beim Verfassen einer Vorschau stets zur Hand sein muss.

Aber damit lassen wir es für heute mal bewenden. Lesen Sie weiter Vorschauen, es muss ja sein, aber zwischendurch auch mal was anderes. Die ersten Bände von Sternes "Tristram Shandy“ sind 1759 erschienen. Es war ein Jahr, in dem buchstäblich der ganze Planet mit kriegerischem Blutvergießen ohne Ende beschäftigt war. Davon kann man bei Sterne zum Glück nur den spöttischen Abglanz lesen. Ansonsten hat der Roman übrigens mehr mit der "Janusköpfigkeit der zeitgenössischen Sexualität" zu tun als Sie sich vielleicht vorstellen können.

Viel Vergnügen

Ihr

Heinrich von Berenberg

PS: Sie können das Buch auch in der "einzig wirklich adäquaten, wahrhaft kongenialen" Übersetzung  von Michael Walter lesen, erschienen bei den einfallsreichen, findigen, klugen, ausgeschlafenen und hoffentlich weiterhin gesunden Kollegen vom Verlag Galiani Berlin.