Hausherr Hauke Hückstädt stellte den Abend in eine Reihe mit weiteren Initiativen und Preisen, die sich für das Buch stark machen: den Deutschen Buchhandlungspreis, der vor einer Woche ebenfalls in Frankfurt vergeben worden sei, die Stiftung Buchkunst, die die 25 schönsten Bücher nun auch dauerhaft im Literaturhaus ausstelle – und die Lesung der Hotlist-Kandidaten. Dies zeige, wie lebendig und unabhängig die Buchhandelslandschaft in Deutschland sei.
„In einer halben Stunde war diese Lesung komplett ausverkauft“, sagte Frankfurts Kulturdezernent Felix Semmelroth. Der Deutsche Buchpreis sei ein wichtiges Instrument, um die Auseinandersetzung mit der Literatur zu befördern. Die öffentliche Aufmerksamkeit gehe aber weit über die sechs Bücher hinaus. Auch die Bücher, die nicht nominiert wurden, seien so Gesprächsgegenstand geworden. Ijoma Mangold, Literaturredakteur der „Zeit“, habe dies gut auf den Punkt gebracht: „Die Shortlist ist kein Hegemon.“
Das ganze Feld der Gegenwartsliteratur zu beleuchten, sei auch das Anliegen des Börsenvereins, betonte Hauptgeschäftsführer Alexander Skipis. Die Buchhandelslandschaft in Deutschland sei ein hohes Schutzgut, das ohne Urheberrecht, Preisbindung und ermäßigte Mehrwertsteuer großen Konzernen wie Amazon ausgeliefert wäre. „Amazon will die vorhandenen Buchhandelsstrukturen in Deutschland zerstören“, warnte Skipis. Für das Buch einzutreten, sei eine gesellschaftliche Aufgabe: Eine freie Gesellschaft könne nur bestehen, wenn das Buch in ihr eine Rolle spielt.
Alf Mentzer (hr2 Kultur), Felicitas von Lovenberg (FAZ) und Gert Scobel moderierten im Anschluss die Gespräche mit den Autoren. Den Auftakt machte Jenny Erpenbeck, deren Roman „Gehen, ging, gegangen“ (Knaus) in den medialen Strudel rund um die Flüchtlingskrise geraten ist. Die Initialzündung für den Roman sei aber bereits 2013 gekommen, so Erpenbeck, nach dem ersten verheerenden Bootsunglück, bei dem 400 Flüchtlinge ertranken. Da habe sie die Reaktion der Öffentlichkeit – „schon schlimm, aber es können nicht alle zu uns kommen“ – sehr geschockt. Bei ihren Recherchen machte sie Erfahrungen mit bürokratischen Absurditäten: zum Beispiel mit einer sogenannten „Fiktionsbestätigung“, die einem Flüchtling, der sich nicht ausweisen kann, bescheinigt, dass er „da“ ist.
Das Flüchtlingsthema streift zwar auch Rolf Lapperts Roman „Über den Winter“, aber dem Schweizer Schriftsteller geht es im Kern um die Geschichte des orientierungslosen Künstlers Lennard Salm, der seinem Leben eine neue Richtung geben will. Dabei taucht der Protagonist tief in die Familiengeschichte ein, und schildert Begebenheiten aus der Vergangenheit seiner Eltern. Die von Lappert gelesene Episode, in der er einen Spaziergang Lennards mit seinem alten, erblindenden Vater Albert schildert, berührte sowohl atmosphärisch als auch literarisch. Zu recht fiel Gert Scobel auf, wie filmisch Lappert schreibt.
Die Liebe – ein Hundeleben
Monique Schwitters Reigen „Eins im Andern“ ist nur vordergründig ein Liebesroman. Die in Hamburg lebende Schriftstellerin und Schauspielerin widmet darin zwölf fiktiven Männern jeweils ein Kapitel. Kein Zufall ist, dass alle Apostelnamen tragen, und dass Motive aus der christlichen Heilsgeschichte eine Rolle spielen. „Liebe als Passion, Liebe als Leidensweg?“, fragte Felicitas von Lovenberg? „Liebe kommt nicht ohne Transzendenz aus“, erwiderte Schwitter. Und auch der Verrat (wie bei Jesus und Judas) schwinge mit. Illusionslosigkeit sicher auch, wie ein Vergleich Schwitters offenbarte: „Die Lebensliebe gibt es nicht mehr. Der Schnitt einer Beziehung liegt bei zehn bis zwölf Jahren. Das entspricht einem Hundeleben.“ Lacher im Publikum, bevor es dann noch einmal ernst wird: „Ich schreibe auch angesichts des Todes, auf das Nichts hin – um ihm etwas entgegenzusetzen.“ Charmant, nicht ohne Humor und dennoch tiefgründig erzählt ihr Buch davon.
Nach angeregten Pausengesprächen ging es gleich weiter mit dem irrwitzigsten Buch, das vielleicht jemals auf einer Shortlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist: Frank Witzels „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ (Matthes & Seitz“) – der Titel allein schon Anwärter auf den kuriosesten Buchtitel des Jahres. Das Buch, davon konnten einen die vergleichsweise kurzen Auszüge überzeugen, taucht tief in die Fantasiewelten eines dreizehneinhalb Jahre alten Teenagers im Wiesbaden-Biebrich der späten 60er Jahre ein. Die philosophische Frage, was Wirklichkeit sei, müsste nach der Lektüre dieses 800-Seiten-Brockens, vielleicht neu gestellt werden. Alf Mentzer interessierte jedenfalls, wie der Autor die verschiedenen Realitätsebenen seines Buchs amalgamiert habe. „Der Roman ist zugleich eine Enzyklopädie der Erzählformen“, fügte Mentzer hinzu, „bis hin zu Schüttelversen wie ‚Kindermund tut Terror kund‘.“
Ein bemerkenswertes Erzählexperiment ist Inger-Maria Mahlke mit ihrem Roman „Wie ihr wollt“ , (Berlin Verlag) gelungen. Sie schildert in Form von fiktiven Tagebucheinträgen aus dem Jahr 1571 die existienzielle (und reale) Gefangenschaft der kleinwüchsigen Lady Mary Grey, einer Cousine von Königin Elizabeth I. Einer Adligen, die wegen ihres Schicksals immer im „toten Winkel“ der Geschichte blieb. „Wie ihr wollt“, das betont Mahlke, sei kein „historischer Roman“, sondern ein Roman, der sich einen „historischen Stoff literarisch aneignet“. „Hier spricht die Gegenwart durch den Spiegel der Vergangenheit“, meinte Felicitas von Lovenberg, „in einem guten, harten Ton“. Die Geschichte einer Emanzipation? Eher die einer „gescheiterten“, wie Mahlke glaubt. Das System, das Lady Grey Macht und Unabhängigkeit verweigerte, sei heute gar nicht so sehr anders.
Rätsel habe der Roman von Ulrich Peltzer („Das bessere Leben“, S. Fischer) ihm zunächst aufgegeben, bekannte Moderator Gert Scobel in der letzten Unterhaltung des Abends. „Erst auf Seite 200 ist der Groschen gefallen.“ Das Buch spielt in Finanzinvestorenkreisen, auf mehreren Kontinenten, und die Protagonisten werden von ihren Erinnerungen geplagt, die ständig „ko-präsent“ seien, wie Peltzer es formulierte. Es sind Erinnerungen an die Zeit des Widerstands in der 68er Zeit, an die Utopien, die als Bruchstücke an die Oberfläche der illusionslosen Gegenwart treiben. Peltzers Roman, so Scobel, fordere die Zusammenarbeit des Lesers mit dem Text, wie William Gaddis (der Autor des legendären Romans „Die Fälschung der Welt“) dies einmal postuliert habe. Scobels Schlusswort: „Wenn Sie wissen wollen, ob das Leben, wie Sie es sich erzählen, nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hat, dann sollten Sie dieses Buch lesen.“
roe