Interview mit Juergen Boos zur Frankfurter Buchmesse

"Die Grenzen der Produktion verschwimmen"

29. September 2016
von Börsenblatt
Ein Spagat zwischen internationalem Fachgeschäft und Publikumsmesse, Gastlandauftritt Flandern und Niederlande und ein völlig neuer Schwerpunkt "The Arts+": Messedirektor Juergen Boos im Interview mit Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir über die bevorstehende Frankfurter Buchmesse (19. - 23. Oktober). 

Das Gastland-Duo Flandern und die Niederlande kommt mit einem starken Angebot: viele neue Bücher, große Autoren, breites Veranstaltungsspektrum. Warum gelingen manche Gastlandauftritte so nachhaltig und andere nicht so?
Der Erfolg der Niederlande und Flanderns kommt aus deren erstem Auftritt hier im Jahr 1993. Der war damals schon sehr gut, zwei der professionellsten Förderungsinstitute sind daraus entstanden: die Niederländische Stiftung für Literatur und der Flämische Literaturfonds. Die Namen, die alle kennen – Harry Mulisch, Cees Nooteboom, Margriet de Moor, Leon de Winter – sind zu international strahlenden Markennamen geworden. Das ging auch vom damaligen Gastlandauftritt aus.

Hat sich der Fokus jetzt nach mehr als 20 Jahren verändert?
Ja. Er hat sich weg von einer auf Literatur konzentrierten Präsentation und hin zu einem vielfältigen Kulturprogramm mit einer ganzen Reihe von Veranstaltungen verschoben. Der Auftritt 2016 strahlt weit über das Buch hinaus. Hier wissen einfach zwei hochprofessionell agierende Institutionen, worauf es ankommt. Das lässt sich gar nicht vergleichen mit Indonesien, die sich vergangenes Jahr zum ersten Mal der internationalen Buchwelt präsentiert haben. Die hatten noch viel zu kämpfen – mit der Entfernung, den Systemen, dem Geldtransfer für die Übersetzungsförderung, und so weiter. Darunter leidet am Ende die Nachhaltigkeit.

Die Frankfurter Buchmesse integriert zunehmend die professionellen Ränder. Es gibt eine ausgebuchte Schau der Klein- und Selbstverleger. Es gibt einen Preis für Literaturblogger. Worauf zielen Sie dabei ab?
Wir als Messe sind ja so eine Art „Sounding Board“, das heißt, wir spiegeln, was wirklich vor sich geht. Jemand wie Elisabeth Ruge legt uns solche Themen nahe, indem sie sich zum Beispiel damit beschäftigt, wie man Bloggen auch in den Verlagen professionalisiert, um das Lesepublikum zu erreichen. Solche Fragen werden wichtiger. Nicht-traditionelle Produkte spielen eine immer größere Rolle. Nicht nur in der Kommunikation lösen sich die Ränder auf, auch bei den Produkten.

Die politische Aufladung der Messe als Plattform für Dialog setzt sich fort. Diesmal überragen Meinungsfreiheit und Zensur alle Themen. Was ist das Ziel?
Ein Kollege zitiert bei der Frage gern Hannah Arendt, die gesagt hat: „Wo das Reden aufhört, beginnt die Gewalt.“ Unser Ziel ist und bleibt also der Dialog. Wo, wenn nicht auf der mit Abstand internationalsten aller Buchmessen, soll denn der Ort für diesen Dialog sein! Autoren und Verleger – alle sind doch heute politisiert, und sie treffen sich in Frankfurt, um miteinander zu reden.

Droht die Balance zwischen verbindendem Dialog und kritischer Deutlichkeit nicht manchmal zu kippen – zur einen oder anderen Seite?
Ich glaube, wir haben eine gute Chance, dass uns die Balance gelingt. Das hängt mit der langen Tradition der Frankfurter Buchmesse zusammen, deren Anfänge ja weit vor der Neugründung nach dem Krieg liegen. Die Altvorderen haben damals mit der Vorläuferveranstaltung die Bischofsstadt Mainz ganz bewusst in Richtung Frankfurt verlassen. Frankfurt war die freie Handelsstadt, und man wollte der bischöflichen Kontrolle und Zensur entgehen. Das Thema gehört also gleichsam zur DNA der Frankfurter Buchmesse. Allerdings misslingt uns auch mal die Balance – wenn wie im letzten Jahr die Iraner entscheiden, sie kommen nicht, weil Rushdie kommt.

Dieses Jahr kommen sie wieder.
Ja, und damit haben wir alle fest gerechnet.

Dafür bleiben die Saudis weg.
Aber wohl nicht aus politischen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. Jedenfalls wurden uns von offizieller Seite keine politischen Gründe genannt. Fachbesucher aus Saudi-Arabien werden natürlich dennoch da sein, aber es gibt keinen vom Land finanzierten Gemeinschaftsstand.

Gegenwärtig wären auch andere politische Themen als Schwerpunkt denkbar – Flüchtlingskrise, Populismus, Kriege, Ungleichheit. Warum gerade Zensur?
Das ergibt sich durch die 14 Gemeinschaftsstände, die wir organisieren, und über die vielen Partner, mit denen wir übers Jahr Veranstaltungen machen. Da kristallisieren sich Schwerpunktthemen auch in internationaler Perspektive meist deutlich heraus. In diesem Jahr ist das zum einen Europa, aber nicht Europa als Gebilde in sich, sondern das Europa mit seinen Außengrenzen und in seiner Interaktion mit dem Rest der Welt. Das zweite große Thema ist in der Tat Zensur und „Freedom to Publish“. Auch die Buchproduktion spiegelt beide Schwerpunkte deutlich wider. Bei uns manifestiert sich das im „Weltempfang“ (seit rund zehn Jahren Bühne für kulturpolitischen Dialog auf der FBM), der wie auch in der Vergangenheit das Zentrum der politischen Debatten sein wird.

Die spektakulärste Grenzüberschreitung bietet die Messe diesmal mit ihrem Kunst-Schwerpunkt „The Arts+“. Warum gerade Kunst?
Was wir in der Produktion und Rezeption an den Rändern beobachten – Stichwort Selbstverleger, Stichwort Literaturblogger –, sehen wir auch bei den Medien selbst: Die Grenzen verschwimmen. Ein schönes Beispiel ist das große Hockney-Buch, das jetzt bei Taschen in einer vom Künstler signierten Auflage für 2000 Euro rauskommt und das wir auf der Messe inszenieren – nicht, um für Taschen Werbung zu machen, sondern um zu zeigen, wie ein Buch zum Unikat und zum Kunstgegenstand wird. Zu The Arts+ gehören aber auch einige der bedeutendsten Museen der Welt, die damit begonnen haben, ihre Inhalte zu digitalisieren.

Inhalte, für deren Verbreitung bisher Verlage zuständig waren…
…genau! Und jetzt sitzen die Museen selbst auf riesigen Archiven. Die Inhalte werden also plötzlich zugänglich, und das ist natürlich sehr interessant für die Verleger, die eine neue Rolle finden müssen. Was hindert ein Museum daran, sein Digitalisierungsprojekt mit Google zusammen zu machen? Und was muss geschehen, damit die Zusammenarbeit mit einem Kunstbuchverlag trotzdem funktioniert? Wir sehen komplett sich wandelnde Verwertungsketten, und es müssen sich an diesen entlang neue Partnerschaften bilden. Das sind Fragen, die wir auf der Messe im Kontext von The Arts+ auf einer Konferenz diskutieren wollen. Neben dem Business-Aspekt spielt für unsere Entscheidung, The Arts+ zu machen, aber auch der Publikumsaspekt eine Rolle. Denn für das Publikum wird es total spannend sein, zu sehen, wie sich die Welten des Buches und der Kunst einander öffnen. David Hockney ist für uns der ideale große Name, weil er zeitlebens – der Mann ist knapp 80 – für Offenheit stand: mit seinen Polaroids und mit seinem Malen auf dem iPad. Hockney steht exemplarisch für die Dynamik und die Auflösung der Ränder, die wir zeigen wollen.

In die Welt der Buchmessen kommt Bewegung: Wettbewerb wie zwischen Turin und Mailand, Versuche der Profilschärfung überall. Wie sortiert sich die Landschaft gerade?
Überall geht es um einen Spagat: einerseits eine nationale Messe zu machen, zum anderen ein eindeutiges Profil zu haben. Bologna ist stark bei den Themen Illustration und Kinderbuch. London steht für englischsprachige Rechte. Mexiko hat sich zum Treffpunkt für Lateinamerika entwickelt. Göteborg trumpft seit Jahren als riesige Verkaufsmesse auf. Andere Buchmessen mit internationalem Anspruch suchen derzeit noch nach ihrem spezifischen Platz.

Und der spezifische Platz für Frankfurt?
Wir sind in der glücklichen Lage, zugleich die älteste, die größte und die internationalste Buchmesse der Welt zu sein. Internationalität ist unser markantester Profilpunkt, jedes Jahr kommen 100 bis 110 Länder. Das ist ein stabiler, ganz starker Geschäftsgrund, der die Aussteller und Fachbesucher nach Frankfurt bringt. Auf der anderen Seite müssen auch wir den Spagat schaffen zwischen Geschäftsmesse und Publikum, denn unsere Internationalität ist natürlich auch eine große Attraktivität für Nichtfachbesucher. Ein dritter Profilpunkt, der uns wichtig ist, liegt in der Setzung der Themen. Da sind wir Avantgarde. Das lässt sich als Spin-off unserer Internationalität erklären, hier kommen eben alle Trends binnen einer Woche im Oktober zusammen.

Jetzt hat die Frankfurter Buchmesse einen Freundeskreis gegründet. Wozu?
Wir sind eine weltweit funktionierende Marke. Wenn sich in New York zwei Verlagsleute verabreden und sagen, wir treffen uns „im Hof“, dann weiß dort jeder, dass der Frankfurter Hof gemeint ist. Ziel unserer Freundeskreis-Initiative ist es, diese weltweite Strahlkraft auch vor Ort sichtbarer zu machen. Das ist, wenn man so will, auch ein Re-Transfer von Markenstärke ins Lokale.

Interview: Torsten Casimir