Lieblingsbuchhandlung: Gedanken von Tanguy Viel

Denken und Begehren

28. September 2017
von Börsenblatt
Der französische Schriftsteller Tanguy Viel über das, was eine gute Buchhandlung ausmacht.

Vor ein paar Wochen bin ich in eine sehr schlechte Buchhandlung geraten. Schwer zu sagen, woran man das erkennt, eine schlechte Buchhandlung, vielleicht an den Jacken der Verkäufer, vielleicht am Fehlen bestimmter Titel, vielleicht auch am Übermaß von Ratgebern in Sachen Psychologie und glücklichem Leben. Ich glaube, gleich mein erster Eindruck war dieser: Jedes der hier liegenden Bücher wollte mir in irgendeiner Weise das Leben erklären, mir Lektionen erteilen, Rat oder Empfehlungen geben, oder es hatte eine Geschichte zu erzählen, aus der seine Sicht der Gesellschaft hervorging. Eine Buchhandlung voller Meinungen also, in der jedes Buch seine Ansichten zu allem kundtut, in der sogar die Fiktion ihr eigenes Gewicht verliert und zu kleinen Fabeln voller Moral verkommt. Es handelte sich hier um typische Vertreter einer zweckgerichteten Literatur, einer, die zustandekommt, weil jemand "etwas zu sagen hat" und diese Inhalte seinen Lesern aufdrängen will. Doch in der Verkleidung als Fabeln und literarische Figuren verkommt Literatur, die auf Biegen und Brechen etwas vermitteln will, zur reinen Prostitution der Sprache, und die Schriftsteller werden zu Zuhältern, denen dann nur noch an geschwätzigen Wörtern liegt, nur noch an solchen, die etwas über die Dinge sagen, statt die Dinge selbst zu sagen.

Diese Haltung erinnert an die Figur des Samson Carrasco bei Don Quijote. Dieser Carrasco, ein Bakkalaureus aus Salamanca, hat sich in den Kopf gesetzt, den Ritter zur Vernunft zu bringen. Ein Bakkalaureus ist er nicht ohne Folgen – die reale Welt hat sich, so meint er, nach dem begrenzten Wissen zu richten, das seine universitäre Ausbildung ihm vermittelt hat. Daher sind ihm der verschrobene Quijote und der zweckfreie Charakter seiner Abenteuer unerträglich, dieses Leben fern des Realen, diese fruchtlose Abseitigkeit. Samson Carrasco ist geprägt von einer Ideologie, in der Nützlichkeitsdenken beherrschend ist; geprägt von der Ideologie eines falschen Heroismus beim Wirken in und an der Welt. Genau auf dieses Modell stützten sich die Verfechter dieser Ideologie bis heute, um die Zweckmäßigkeit des Schreibens zu rechtfertigen: "endlich Bücher, die etwas zu sagen haben", freuen sie sich, "endlich Bücher, die der Gesellschaft nützlich sind".

Wenn ich nun versuche zu begreifen, was ich in einer guten Buchhandlung spüre, so komme ich merkwürdigerweise auf das genaue Gegenteil: Nirgends, in keiner Abteilung, spricht mich der Sinn mit lauter und seiner Sache so felsenfest sicherer Stimme an. Weder Titel noch Auslagen noch Buchhändler kommunizieren mit mir im Sinne eines Katechismus. Nirgends wird die Sprache auf einige Worthülsen reduziert, nirgends herrscht Sprachverarmung durch das Bestreben, die Wirklichkeit irgendeiner Moral zu unterwerfen, irgendeiner Lebensweise, wie es in jenen quälenden Büchern geschieht, bei denen ich den Eindruck habe, jemand spräche an meiner Stelle. Genau das ist es: In schlechter Interaktion und schlechten Büchern maßt sich jemand an, an meiner Stelle zu sprechen.

Stellen wir uns also vor, ich betrete eine echte Buchhandlung. Nun, in dieser wohltuenden Umgebung werde ich endlich zweierlei tun können, zwei mir bis dato unmögliche Dinge, die vielleicht die Essenz des Menschseins ausmachen, nämlich denken und begehren. Es gibt keinen Zauberspruch, mittels dessen sich diese Empfindung teilen ließe, eben weil die hier angebotenen Bücher sich nicht zu marktschreierischen Slogans zusammenfassen lassen, und schon gar nicht wollen sie mir etwas aufzwingen. In einem guten Buchladen kann meine Zuständigkeit für mich selbst sich entfalten. Der Sinn wird uneindeutig und die Vernunft mit ihm, Denken und Begehren gewinnen Oberhand über die Zurückhaltung. Ich befinde mich nicht mehr im Kriegszustand. Ich habe endlich Lust, Bücher zu kaufen. Endlich geschieht etwas.

Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel

Tanguy Viel, geboren 1973 in Brest, lebt heute in der Nähe von Orléans. Seit 1998 hat er sieben Romane veröffentlicht. Im September ist sein neues Buch "Selbstjustiz" erschienen (Wagenbach)