Geschwister-Scholl-Preis für Hisham Matar

"Ich bin der Sohn eines ungewöhnlichen Mannes"

21. November 2017
von Börsenblatt
Hisham Matar ist am Montagabend in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet worden. Sein Buch "Die Rückkehr" steht aus Sicht der Jury "für die überwältigende Widerstandskraft des menschlichen Geistes". 

Die Welt ist schockiert: Ein CNN-Video zeigt unmissverständlich wie der Sklavenhandel mit afrikanischen Migranten in Libyen blüht – hier und heute. Libyen, ein Land, das reich ist an Erdölvorkommen. Libyen, ein Land, in dem nach der Machtübernahme durch Muammar-al-Gaddafi 1969 diktatorische, menschenverachtende Machtverhältnisse herrschten. 2011 wurde Gaddafi gestürzt. Seitdem versinkt das Land durch Kämpfe militärisch organisierter Milizen in Blut und Gewalt.

"Die Tugenden der Erinnerung" 

Jaballa Matar war Anfang der 70er Jahre Mitglied der libyschen Delegation bei den Vereinten Nationen. Danach kehrte er mit seiner Familie nach Libyen zurück. Doch bald wurde die Familie politisch verfolgt, floh nach Kairo. 1990 lieferte dann der ägyptische Geheimdienst Jaballa Matar wegen Unterstützung des libyschen Widerstands an Gaddafis Schergen aus. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist Jaballa Matar 1996 beim Massaker in Abu Salim ermordet worden – wie Tausende andere Oppositioneller.

Hisham Matar ist sein Sohn und die Ereignisse haben ihn nicht ruhen lassen. Sein Schreiben kreist um die schrecklichen Geschehnisse - und nach dem Sturz Gaddafis beschließt Hisham Matar nach Libyen zu reisen, auf den Spuren des ermordeten Vaters. Für sein Buch "Die Rückkehr. Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater" (Luchterhand) ist Hisham Matar mit dem diesjährigen Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet worden.

Der Preis, mit 10.000 Euro dotiert, wird seit 1980 vom bayerischen Landesverband des Börsenvereins gemeinsam mit der Landeshauptstadt München vergeben - für ein aktuelles Buch, "das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern."

Aber was genau hat Hisham Matars Buch mit der Widerstandsgruppe um die Geschwister-Scholl zu tun? In der Jury-Begründung heißt es, "Die Rückkehr" sei ein Buch "über die überwältigende Widerstandskraft des menschlichen Geistes und über die Tugenden der Erinnerung, die dieser Erfahrung gerecht werden will: Beharrlichkeit, Sorgfalt und Vorsicht."

Einer, der sich der schmerzlichen Seite seiner Familiengeschichte stellt

Bei der Preisverleihung in der Aula der Ludwig-Maximilians-Universität ging Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter auf den besonderen Umstand der Preiswürdigkeit von Hisham Matars Buch ein: Es gehe darin eben nicht um den eigenen Widerstand des Autors, sondern darum, "sich den schmerzlichen Seiten seiner Familiengeschichte zu stellen". Das Verschwinden des Vaters erinnerte Reiter an den so genannten "Nacht-und-Nebel-Erlass" Adolf Hitlers.

Die Besonderheit von Hisham Matars autobiografischem Werk hob auch Michael Then, Vorsitzender des Landesverbandes Bayern, in seiner Rede hervor. Früher hätten mutige Menschen, Länder entdecken können – "heute bedarf es mutiger Menschen, die das Verschwinden eines Landes und seiner Bewohner zu verhindern suchen." Zu diesen mutigen Männern zähle ohne Zweifel der Vater von Hisham Matar. Und der Entschluss des Sohnes, über das widerständige Leben, das Verschwinden und die Ermordung des Vaters zu schreiben, habe das Tun und Denken von Jaballa Matar dem Vergessen entrissen. Der autobiografische Roman des Sohnes sei daher "Sinnbild für Mut, Verzweiflung und Enttäuschung, aber auch für die bewegende Suche des Autors nach der eigenen Seele und der seines Landes."

"Entführungen sind in Libyen auch heute an der Tagesordnung"

In ihrer Laudatio zitierte die Journalistin und Sachbuchautorin Susanne Mayer aus Hisham Matars Buch: "Ich bin der Sohn eines ungewöhnlichen Mannes, vielleicht eines großen Mannes." Ja, der Autor ist sich bewusst, dass sich die Größe des Vaters daraus ergibt, dass er gegen Gaddafis Regime offenen Widerstand geleistet, ihn organisiert und damit seinen eigenen Tod mit einkalkuliert hat. Zudem erinnerte Susanne Mayer zurecht daran, dass mit dem Sturz Gaddafis die Gräueltaten in Libyen nicht geendet haben. An die 2700 Menschen seien bei der Flucht aus dem Land allein in diesem Jahr im Mittelmeer ertrunken. Und: "Entführungen sind in Libyen auch heute an der Tagesordnung." Damit ist Hisham Matars Buch ein literarisch-politisches Werk, das nicht nur Trauerarbeit für Vergangenes leistet, sondern auf die Traumata der heutigen Zeit übertragbar ist.

"Das Unsagbare ausdrücken"

Preisträger Hisham Matar fragte in seiner Dankesrede nach der möglichen Kraft der Literatur. Vielleicht sei sie das ideale Medium, um Toleranz und geistige Unabhängigkeit zu befördern. Eines sei für ihn aber sicher: "Literatur besitzt die einzigartige Fähigkeit, das Unsagbare auszudrücken, menschliche Widersprüche und Zweifel darzustellen und zu ertragen." Unter diesem Zeichen habe er sein Buch "Die Rückkehr" verfasst. In diesem Sinne auch, so Hisham Matar, sei er froh und stolz, den Geschwister-Scholl-Preis zu erhalten. Ihr Mut zum Widerstand sei für alle Zeit Vorbild.

Man darf ergänzen: Dass die Jury seit einigen Jahren Preisträger ermittelt, die Bücher verfassen, die nicht direkt mit dem NS-Unrechtsstaat zu tun haben, ist ohne Zweifel eine Bereicherung. Gewalt und Willkür regieren in weiten Teilen der Welt. Sich dagegen zu wehren, ist eine notwendige Aufgabe - eine Möglichkeit ist die Literatur.

Alle Reden der Preisverleihung lassen sich hier nachlesen.