Bundesfinale Vorlesewettbewerb

Victoria Schaay ist Deutschlands beste Vorleserin

20. Juni 2018
von Börsenblatt
Die Schulklassen und Fans der 16 Landessieger im Vorlesewettbewerb waren alle ins Studio A des RBB angereist: Es wurde ein spannendes Finale mit überzeugenden Leistungen. Am Ende überzeugte die fünfköpfige Jury Victoria Schaay (12) vom St. Joseph-Gymnasium in Rheinbach: Sie ist Siegerin des 59. Vorlesewettbewerbs des Deutschen Buchhandels.

Beeindruckend, wie unterschiedlich die Interpretationen und Sprechtechniken der 16 Sechstklässler sind - zumal sie sich die Bücher, aus denen sie lasen, erst am Vortag in Berlin aus einer großen Vorauswahl ausgesucht hatten. "Ihr habt uns die ganze Bandbreite geboten!", sagte Hörcompany-Chefin Angelika Schaack als Juryvorsitzende. Josefine May aus Mecklenburg-Vorpommern etwa las aus Antonia Michaelis' "Wind und der geheime Sommer" (Oetinger) mit leicht angerauter Stimme, seufzte, rang mit ihren Figuren gekonnt um Luft, stöhnte verzweifelt. Ebenso eindrucksvoll die Interpretation der Figuren in Iris Stobbelars "Die Verwunschenen" (Beltz & Gelberg), denen Leon Christen aus Rheinland-Pfalz hinterlistig drohend, fluchend, flüsternd eine Kontur in den Köpfen der Zuhörer verlieh. 

Schauspieler und Juror Max Moor gratulierte zu dieser Leistung: "Leon, großartig, wie du diesem Quasselstein einen Stimme gegeben hast -  Du hast ein Gespür für Dramatik!" Moor bekannte seine Vorliebe für Dialekte: "Ich finde es schade, dass Autoren so wenig Dialekte einbringen, das ist für Sprecher eine wunderbare Spielmasse, mit der man beim Sprechen umgehen kann!"

Atmosphärische Färbungen überzeugen

Die bot Leni Fehlhauer aus Niedersachsen reichlich mit berlinischen Dialogen in einer gekonnt vorgetragen spannenden Szene aus Martin Musers "Kannawonniwasein" (Carlsen): Schwungvoll riss sie die Zuhörer mit. Mia Woraschk aus Bremen holte das Bild einer fiesen, wütenden Förstersfrau vor in bremischen Tonfall vor Augen; sie wechselte zwischen der ängstlichen Betroffenheit der Kinder und dem keifenden Ärger der Försterfrau. Mit einer leicht norddeutschen Färbung schaffte Jona Tophinke von der Insel Föhr eine ungeheuer starke Lebendigkeit. Herrlich ironisch, mit einer großen atmosphärischen Bandbreite zog er mit Suzanne Mains "Mist, Oma ist ein Alien" (ArsEdition) die Zuhörer im vollbesetzten Studio A in Berlin in Bann.

Ein überzeugendes Kammerspiel dagegen bot Lilly-Mae Green aus Bayern mit dem inneren Monolog, der Zerrissenheit der Ich-Erzählerin aus Ava Reeds "Die Stille meiner Worte", die mit exakt gesetzten Pausen, hörbarem Atemanhalten für Gänsehaut und Ergriffenheit bei den Zuhörern sorgte. Ebenso lotete Lina Jerofsky aus Sachsen mit leisen Tönen nuanciert die verzwickte Situation eines Jungen mit Down-Syndrom aus, der in Iben Akerlies "Lars, mein Freund" (dtv) während des Turnunterichts für Aufregung sorgt. Unaufgeregt verlieh Franziskus Wilkening aus Sachsen-Anhalt Hund und Spinne in Andy Mulligans "Spider" die passenden Stimmen - gekonnt: "Ich hatte ständig das schiefe Lächeln der Spinne vor Augen", meinte KiKa-Moderator Tim Gailus in der Jury. Die Spinne spielte auch eine Rolle in Mina Teicherts "Ich wollt, ich wär ein Kaktus", aus der Emiliy Stromann las. "Ich mag deine Stimme, ich könnte ein ganzes Buch von dir hören, du warst richtig in der Geschichte drin", lobte Schauspielerin und Bloggerin Nilam Farooq. Das galt auch für Johnny Zimmermann aus Berlin, der mit fies-rauer Stimme einen hartherzigen Mafiaboss in Pavel Sruts „Sockenfresser (Fischer KJB) mimte. "Ein Super-Padrone und ein Setting, das man gerne in Bildern sehen würde", meinte Angelika Schaack. Sven Gabriel aus Thüringen changierte mit einer schon tieferen Stimme zwischen sanfter Sehnsucht und mahnender Eindringlichkeit, nahm zwischen Stolz und Schluchzen Tempo auf.

Thematische Bandbreite von Spickzettel bis Migration

Für ungebremste Heiterkeit im Publikum sorgte die Textpassage aus Dina El-Nawabs "Eric Fail - Geht's noch peinlicher?" (Ueberreuter), die sich Lena Richter aus Hamburg ausgesucht hatte: Das richtige Versteck für einen Spickzettel zu finden - die Mutter schlägt dem Jungen als sichersten Ort einen BH vor ... Lässig und humorvoll brachte sie die Stimmung am Frühstückstisch rüber, "toll, wie Du die verschiedenen Stimmen der Familie gesprochen hast!", meinte Vorjahressieger Jarik Foth in der Jury anerkennend. Auch der zielsicher vorgetragene empörte Wutanfall eines Punkers sorgte für offene Münder im Publikum und Schmunzeln bei der Jury: Leander Neudeck aus dem Saarland hielt in der Suada aus Jutta Wilkes "Stechmückensommer" (Knesebeck) sowohl Tempo als Stimmkraft. Feuchte Augen bei den Erwachsenen dagegen gab es bei der Textpassage aus Lea Dittrichs "Die Dinge, über die wir schweigen" (Südpol): Erinnerungen an die Mutter, Versuche, eine emotional komplizierte Situation zu erklären - Emilie Huchler aus Baden-Württemberg trug das fast Unsagbare leise schluckend mit atemloser Spannung vor - "wie in Zeitlupe" habe Emilie die Szene aufgebaut, so Juror Tim Gailus. Spürbares Gefühl für Dramatik, aber im expressiven Sinne, zeigte auch Victoria Schaay aus Nordrhein-Westfalen, die ihre Stimme bis in höchste Stimmlagen katapultierte: "Eine unglaublich angenehme Stimme - mich hat der innere Konflikt des Jungen gepackt, der im Wolf keine Bestie sehen will", urteilte Juror Max Moor.

Politisch hochaktuell dann der zeitlich letzte Vortrag von Hanna Gelmroth aus Brandenburg: Sie hatte eine Passage aus Mirjam Presslers "Ich bin's, Kitty" (Beltz & Gelberg) gewählt, in der Katzen über andere Katzen diskutieren, die aus einem Bürgerkriegsland geflüchtet sind. Sie arbeitete die unterschiedlichen Stimmen in der erregten Debatte heraus, die zu einem Plädoyer für uneingeschränkte Menschlichkeit wurde.

Sendetermin am 30. Juni

Für Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller ist der Vorlesewettbewerb alles andere als ein Pflichttermin: "Ich freue mich jedes Jahr darauf!" Riethmüller hob hervor, dass der Wettbewerb, an dem in diesem Jahr rund 23.000 Klassen mit 570.000 Schülern teilgenommen haben, die erfolgreichste Leseförderungsmaßnahme sei. Das sei wichtiger denn je, denn wie Autorin Kirsten Boie jüngst in der "Zeit" beklagt habe, könnte ein Fünftel der Fünftklässler nicht den Sinn eines Textes verstehen. "Das ist ein Skandal, dass wir uns so wenig Förderungsmaßnahmen leisten - denn wer nicht gut lesen kann, hat später weniger Chancen."  RBB-Programmdirektor Jan Schulte-Kellinghaus, dessen Tochter am Vorlesewettberb an ihrer Schule gewonnen hat, berichtete, dass "wir beim Lesen von 'Ella' oft laut gelacht haben!"

Der RBB hat das Finale der 59. Vorlesewettbewerb aufgezeichnet und produziert eine Sendung für KiKa, die am 30. Juni um 17.45 Uhr bei "Timster" ausgestrahlt wird. Das Erste zeigt im Herbst zum Start des neuen Wettbewerbs 2018/19 eine weitere Sendung.