Blindenbibliotheken als Schrittmacher der digitalen Revolution? Was manchen (sehenden) Laien eher etwas dick aufgetragen vorkommt, klingt den Fachleuten der Mediengemeinschaft für blinde und sehbehinderte Menschen e. V. (MediBuS) keineswegs wie Zukunftsmusik in den Ohren - die mehr als 100 Jahre währende Geschichte der Produktion blindengerechter Medien ist eine Geschichte technischer Innovationen:
Das Blindenschriftbuch konnte zuerst nur per mechanischer Punktschriftschreibmaschine hergestellt werden, danach ermöglichte der Druck per Zinkplatte erstmals die Herstellung mehrerer Kopien. Durch Computer, Scanner, Übersetzungsprogramme und moderne Drucker wurde die Produktion schneller und flexibler. Seit rund 50 Jahren wird das klassische Blinenschriftbuch durch Hörbücher ergänzt. An die Stelle des Tonbands trat die Compact-Kassette, inzwischen selbst Auslaufmodell. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet man an der Vervollkommnung eines internationalen Standards für die nächste Hörbuch-Generation auf digitaler Basis. Inzwischen sind multimediale Bücher für Blinde auf bestem Weg, die zeitaufwendig und kostenintensiv hergestellten analogen Hörbücher abzulösen.
Das wirft Fragen auf: Wie ist es um den Zugang zu digitalen Angeboten für Menschen mit erheblichen Seheinschränkungen bestellt? Wie können Verlage unterstützt werden, ihre Inhalte dem Behinderten-Gleichstellungsgesetz entsprechend barrierefrei für jedermann zugänglich zu gestalten? Und: Haben am Ende auch sehende Nutzer etwas davon?
BÖRSENBLATT.NET sprach mit MediBuS-Vorstandsmitglied Elke Dittmer, Geschäftsführerin der Norddeutschen Blindenhörbücherei (Hamburg) und Vorstandsmitglied des internationalen DAISY-Consortiums.
BÖRSENBLATT: Vor genau drei Jahren haben sich Produzenten und Bibliotheken, die blindengerechte Medien herstellen und verleihen, mit Verbänden der Blindenselbsthilfe im deutschsprachigen Raum zur gemeinsamen Dachorganisation MediBuS zusammengeschlossen; ihre Vision: Jedem Menschen jedes Buch zur gleichen Zeit und zum gleichen Preis verfügbar zu machen. Nun haben Sie Akteure des klassischen Buch- und Medienmarkts - Verleger, aber auch den Vorstand der VG Wort oder das Projekt Volltextsuche Online der MVB - zum Workshop nach Leipzig eingeladen. Warum?
Elke Dittmer: Wir haben Fragen an Verlage, eine ganze Reihe von Kooperationsideen - und wir haben eine Technologie an der Hand, die Verlagen insbesondere kommerziellen Hörbuchverlagen die Arbeit sehr erleichtern, womöglich einen Quantensprung vorwärts bedeuten könnte. Leider ist das Wort Blindenbücherei häufig noch negativ besetzt, man hält uns für leicht verstaubt und antiquiert; technologische Innovationen erwartet man von uns eher nicht. An einer Einrichtung wie der DZB kann man sich eindrucksvoll vom Gegenteil überzeugen.
BÖRSENBLATT: Das Blinden(hör)buch erlebt seit einigen Jahren eine Art digitale Revolution wo geht die Reise hin?
Dittmer: Wir haben letzte Woche auf unserer jährlichen Mitgliederversammlung ein Zukunftspapier verabschiedet: Wir werden unseren Nutzern mit sanftem Druck nahe bringen müssen, dass die Ära der Kassetten-Ausleihe am Silvesterabend 2009 endet. Das wird nicht ganz einfach; viele unserer Nutzer sind hoch betagt und wollen eigentlich nicht mehr auf eine neue Technologie umsteigen. Dabei ist die neue Technik gerade für alte Menschen sehr einfach zu bedienen unsere Nutzer müssen nur begreifen, dass sie die CDs, die sie von uns bekommen, nicht mit einem herkömmlichen CD-Spieler abhören können.
BÖRSENBLATT: Um welche Technik handelt es sich?
Dittmer: Schon seit Mitte der 90er Jahre wurden mit dem Projekt DAISY konkrete Schritte unternommen, den Weg vom analogen zum digitalen Blindenhörbuch zu realisieren. DAISY steht für Digital Audiobased Information System; es handelt sich dabei um auf CDs aufgesprochene Bücher, die im MP3-Format komprimiert sind. Dazu können Sie in einem DAISY-Buch jedoch navigieren, so als ob Sie durch ein konventionelles Buch blättern: Sie können einzelne Kapitel oder Überschriften, sogar einzelne Sätze anwählen, sich den letzten Absatz noch einmal vorlesen lassen und sich per Tastendruck die Länge eines Buches oder die abgelaufene und die noch verbleibende Spielzeit der CD ansagen lassen Features, die gerade bei Hör-Editionen von Zeitschriften und Sachbüchern enorme Vorteile bieten. Die Bedienung der DAISY-Abspielgeräte ist ebenfalls sprachgeführt.
BÖRSENBLATT: Wie weit ist die Technologie verbreitet?
Dittmer: Neue Blindenhörbücher entstehen nur noch in diesem Format. Und dann ist es natürlich die große Aufgabe, unseren Archivbestand zu digitalisieren und um die Navigations-Funktionen zu ergänzen. Wir wollen im deutschsprachigen Raum bis Ende 2009 rund 30.000 DAISY-Hörbuchtitel im Angebot haben. Seit kurzem kann man die Abspielgeräte, die im Fachhandel um die 350 Euro kosten, bei uns auch für eine Monatsgebühr von 12 Euro mieten. Weltweit gibt es heute etwa 200.000 Abspielgeräte und eine ähnliche Anzahl von Büchern.
BÖRSENBLATT: Ein Nischenprodukt für sehr spezifische Anforderungen was könnte kommerzielle Hörbuchanbieter an DAISY reizen?
Dittmer: In ersten Gesprächen mit Verlagen sind wir auf offene Ohren gestoßen das Interesse an Verbesserungen der vorhandenen Produkte ist groß. Die ausgefeilten Navigations-Funktionen führen das Hörbuch-Erlebnis sehr nahe ans herkömmliche Lesen heran nicht nur für blinde Menschen eine tolle Lösung, sondern, wie wir finden, auch ein interessanter Ansatz fürs klassische Hörbuch. Gerade lange Produktionen lassen sich so vernünftig strukturieren, weit über die üblichen Tracks hinaus. Ein DAISY-Buch ließe sich so auch kommerziell denken: Der sehende Käufer spielt es auf dem MP3-Player ab, der blinde Nutzer hat zusätzliche Navigations-Vorteile.
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Dittmer: Darüber hinaus stellt sich eine weitere, hierzulande immer etwas heikel diskutierte Frage: Wir machen Bücher zugänglich für Menschen, die Gedrucktes nicht lesen können. Das sind derzeit bei uns hauptsächlich Blinde und hochgradig Sehbehinderte. In anderen europäischen Ländern sind es zunehmend auch Sehende mit Leseproblemen in Skandinavien etwa leiden ¾ der Benutzer an Dyslexien und anderen Störungen, die es ihnen nicht erlauben, Gedrucktes flüssig zu lesen. Menschen, die nicht in Bibliotheken gehen, die keine Bücher kaufen. Wenn es gelingt, diese Menschen durch das DAISY-Buch am kulturellen Leben teilhaben zu lassen dann können sie auch Kunden werden, sofern es die Produkte im Handel gibt. Wenn Sie bedenken, dass wir pro Jahr im deutschsprachigen Raum rund 1700 neue Bücher in Blindenschrift oder als Hörbuch zugänglich machen, ist das natürlich verschwindend wenig und oft bewegen sich die ausgewählten Titel eher am Massengeschmack. Gelänge es, diese Titel am kommerziellen Markt anzubieten, hätten wir mehr Kapazitäten für schwierigere Titel, die uns natürlich auch am Herzen liegen.
BÖRSENBLATT: Was nehmen Sie vom Workshop für Ihre künftige Arbeit mit?
Dittmer: Die persönliche Begegnung läßt uns die Schnittpunkte mit der Arbeit der Verlage klarer sehen. Wir werden im nächsten Jahr die ersten Abspielgeräte haben, die download- und streamingfähig sind. Wir müssen also über Rechte und Technik sprechen. VTO arbeitet an der Vereinheitlichung unterschiedlichster digitaler Formate; ein Problem, mit dem wir in den Blindenbüchereien seit Jahren kämpfen. Ich denke, der Workshop hat gezeigt, dass wir niemanden etwas wegnehmen, sondern eine Menge zu geben haben durchaus auch technologisch. Gern würden wir gemeinsam mit dem Börsenverein auf der Leipziger Buchmesse 2009 ein Forum Lesen für alle organisieren, das die aufgeworfenen Fragen weiter vertieft. Auf der kommenden Frankfurter Buchmesse werden wir von MediBuS noch einmal vortragen, was wir können und welche Kooperationsmöglichkeiten da für beide Seiten noch schlummern.