Als im Frühjahr in den hitzigen Debatten um die Rettung der überschuldeten Clearing-Firma warnende Stimmen meinten, die Fehlbeträge könnten am Ende des Tages noch weit über den damals gehandelten 4,4 Millionen Euro zu liegen kommen, hatten die Unkenrufer leider recht. Ganz offenkundig war der Bilanzstatus von den zu jener Zeit Verantwortlichen nicht zutreffend berichtet worden.
Das nun wohl valide Ergebnis einer von der BBG-Holding am 22. August veranlassten Sonderprüfung: Mindestens sieben Millionen Euro zusätzlich müssen in die BAG hineingegeben werden, um deren akute Überschuldung zu heilen und ein Insolvenzverfahren abzuwenden. Geschätzte weitere 1,5 Millionen werden für Restrukturierungsmaßnahmen aufzuwenden sein, damit die BAG ihrem Kerngeschäft wieder lege artis nachgehen kann.
Damit ist wirtschaftlich und politisch eine Fallhöhe erreicht, auf der die Frage nach der Solidaritätspflicht aller (nicht nur derer, die am BAG-Clearing teilnehmen) nicht mehr als bloß rhetorische besprochen werden darf. Der Vorstand des Börsenvereins hat dennoch, schließlich stand der Gang zum Insolvenzrichter unmittelbar bevor, rasch und klar entschieden: Die BAG soll auch angesichts der aktuellen, dramatisch schlechten Zahlen erhalten werden. Begründung des Vorstehers Gottfried Honnefelder: Ihr Zusammenbruch würde derartige Verwerfungen in vielen Mitgliedsunternehmen nach sich ziehen, dass der Börsenverein selbst Schaden nehmen würde. Rettung also aus Staatsräson und aus Verantwortung gerade kleineren Mitgliedern gegenüber.
Die Vorstände haben um ihre Position, die einmütig formuliert wurde, intensiv gerungen. Zuvor hatte der Aufsichtsrat der BBG-Holding ihnen den Ball ins Feld gespielt und konstatiert: Aus betriebswirtschaftlichen Gründen sei eine Sanierung der BAG nicht mehr zu rechtfertigen. Wenn man sie aus anderen Motiven weiterführen wolle, so sei das eine Entscheidung, welche die Gesellschafter zu treffen hätten. Aufsichtsräte können sich solche Eindeutigkeit leisten. Vorstände aber müssen durchs Unterholz der Befindlichkeiten.
Sie sind in den vergangenen Tagen hindurchgegangen und mit einer sehr realistischen Perspektive, so Honnefelder, wieder herausgekommen. Wir haben die Pflicht, uns hier normativ zu verhalten. Für ihn und seine Kollegen im Leitungsgremium des Verbands steht fest: Das Abrechnungssystem der BAG ist ein essentieller Bestandteil unserer Branche. Und wir glauben, dass wir dieses Geschäft in Zukunft gut führen können und auch führen müssen im Sinne unserer Mitglieder. Wie die Branchenseele tatsächlich empfindet, weiß niemand genau. Man wird ein breites Spektrum an Meinungen und an Gefühlsfarben unterstellen dürfen. Auch wird jetzt, wie es der Vorsitzende des Landesverbands Bayern, Wolf Dieter Eggert, prognostiziert, der Markt der Besserwisser florieren.
Die Mitglieder des Länderrats diskutierten Mitte der Woche den BAG-Fall zunächst mit etwas anderen Akzenten als der Vereinsvorstand. Stefan Könemann, NRW-Vorsitzender und zugleich Entsandter der Länder im BBG-Aufsichtsrat, räumte zwar ein, es stünden Pest oder Cholera zur Wahl. Aber einige seiner Kollegen neigten in der Diskussion anfangs eher dazu, die BAG insolvent gehen zu lassen und alsbald eine andere Struktur, einen anderen Dienstleister für das buchhändlerische Abrechnungsgeschäft zu finden.
Die zwei gewichtigsten Gründe für die Rettungsmillionen gaben auf Länderseite letztlich den Ausschlag für die dann doch einstimmige Unterstützung der Vorstandslinie. Erstens: Ein BAG-Insolvenzverfahren berge unkalkulierbare finanzielle Risiken für viele Mitgliedsfirmen und könne weitere Unternehmensinsolvenzen nach sich ziehen. Betreffen könne das insbesondere kleine und mittlere Unternehmen aus Sortiment, Zwischenbuchhandel und Verlag. Zweitens: Käme es tatsächlich zur Stunde null, so könne das die Kreditwürdigkeit der gesamten Börsenvereinsgruppe am Finanzplatz Frankfurt, aber auch in der Politik außerordentlich beschädigen, gaben Verlegervorstand Karl-Peter Winters und Verbandshauptgeschäftsführer Alexander Skipis zu bedenken.
Das leuchtete auch denen ein, die zuvor in Richtung Insolvenzgang als die ehrlichere, vielleicht auch die für die Mitglieder überraschendere Lösung (Transit-Verleger Rainer Nitsche) argumentiert hatten und die davor warnten, Solidarität den Mitgliedern über Gebühr abzuverlangen (so das Petitum des Stuttgarter Buchhändlers Konrad M. Wittwer).
Die auf den BAG-Versammlungen in Leipzig und Berlin hervorgetretene, zum Teil strapaziöse Larmoyanz einiger, die die Katastrophe des Unternehmens mit zu verantworten haben, steigert sich im Licht der neuen Zahlen nun doch ins Obszöne. Hier wurde Geld in den Orkus geschickt, das dem Verband auf viele Jahre fehlen wird. Das mag zwar strategisch wichtige Innovationen nicht blockieren, es wird die Kultur- und Lobbyarbeit nicht zum Erliegen bringen, es wird auch die Schaffung weiteren Nutzens für die Verbandsmitglieder nicht verhindern. Aber alle kreative Arbeit, für die man Bares braucht, steht nach einem weitgehenden Abschmelzen der Liquidität der Börsenvereinsgruppe nun unter verschärfter Rechtfertigungspflicht. Die Spielräume werden enger. Der BAG und denen, die sie heruntergewirtschaftet haben, seis geklagt. An dieser Stelle werden 11,4 versenkte Euro-Millionen schmerzlich fühlbar.
Zur Mindesthygiene auch in Solidargemeinschaften gehört es dann, die Frage nach Zurechnung, nach Verantwortung und Haftung zu beantworten. Guido Zanolli oder sagen wir besser Er, dessen Name nicht genannt werden darf meldet soeben die Einstellung aller staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen ihn. Man hat nun mit der Rede von der alles in den Abgrund reißenden, kriminellen Energie eines bösen Einzelnen, unseres Branchen-Voldemorts, kein Auskommen mehr. Man wird mindestens mal über das Wegschauen, über die selbstverschuldete Blindheit des einen oder anderen Kollegen sprechen müssen. Sehr zu begrüßen ist es deshalb, dass der Vorstand in seinem BAG-Beschluss die Klärung der Hintergründe bis hin zu Haftungsfragen durch externe Dritte ankündigt.
Dabei geht es nicht um entbehrliche Vergangenheits-, sondern um dringliche Gegenwartsbewältigung. Denn die Wut vieler Mitglieder über die Protagonisten der Riesenpleite wächst. Ein Abrechnungsgeschäft anderer Art steht dem Börsenverein bevor. Sieht ganz nach einem Job aus, für den keine Vergnügungssteuer abzuführen sein wird. Aber bitte: Die Akte still zu schließen, ist ab sofort keine Option mehr.
In geklärten Verhältnissen allerdings sollte der Start in die Zukunft einer neuen BAG gelingen, zu dem der Vorstand die Branche mit beachtenswerter Zuversicht aufruft. Erst recht, wenn einer wie Manfred Antoni nun als Manager antritt. Diese Personalie darf man auch ohne Verdacht auf Zwangseuphorie als mittlere Sensation feiern. Antoni genießt breites Vertrauen. Er ist der Optimismusmacher der Stunde.
Alles auf Anfang, aber anders: Optimisten sind Leute, die das Gute erwarten, damit es eintritt.