BÖRSENBLATT-Café

»Überproduktion oder Unterdistribution?«

11. Oktober 2007
Redaktion Börsenblatt
Ob wir 95000 Neuerscheinungen pro Jahr verkraften können – dieses Rätsel wurde heute um 15.30 Uhr im BÖRSENBLATT-Café gelöst.
Unter dem Titel »Überproduktion oder Unterdistribution?« diskutieren der Verleger Jörg Bong, der Autor Thomas Glavinic, die Buchhändlerin Christiane Schulz-Rother und der Verlagsberater Dieter Banzhaff. Moderiert wird die Veranstaltung von BÖRSENBLATT-Chefredakteur Torsten Casimir und BÖRSENBLATT-Redakteur Holger Heimann. Casimir: "95000 neue Bücher im Jahr 2006 – man kann dazu unterschiedliche Positionen einnnehmen. Ist das eher begrüßens- oder beklagenswert?" Schulz-Rother: "Aus Sortimentersicht ist das eher beklagenswert. Wir haben nur eine bestimmte Fläche zu Verfügung, egal, wieviel produziert wird." Glavinic: "Ich bin nicht nur Autor, sondern auch Leser. Insofern ist das viel. Aber man sucht sich ohnehin die Bücher aus, die man lesen möchte. Diese Zahl 94713 ist für mich als Leser gar nicht real." Bong: "Das ist eine vollkommen absurde Zahl, da darunter alles subsumiert ist, was ein Buch ist." Relevant wäre die Frage, wie groß die belletristische Produktion pro Saison wäre." Heimann: "Die Belletristik macht rund ein Viertel der Gesamtzahl aus." Banzhaff:"Ich sehe das nicht so ganz aus der belletristischen Warte. Es sind 259 neue Bücher pro Tag. Da muss einem doch klar werden, dass darin eine Überproduktion enthalten ist. In der Hoffnung, dass eines der Bücher ein Bestseller wird." Bong: "Wir machen doch nicht Bücher mit der Motivation, dass es Bestseller werden. Drei Viertel der Produktion ist defizitär. Und das ist auch gut so. Ihr Ansatz ist kulturfeindlich. Ich bin entsetzt." Banzhaff: "Bücher, die auf den Markt kommen, sollten ihre Chancen haben. Das meine ich auch. Viele Verlage wurden in den vergangenen Jahren aufgekauft, weil die Wirtschaftlichkeit nicht gereicht hat. Man kann diesen Punkt nicht einfach unterdrücken. Die Summe am Jahresende muss stimmen. Die Verleger wollen ihr Geld wieder zurück haben. Verlegen kommt bekanntlich von Vorlegen." Heimann: "Herr Bong, wenn Sie sechs Bücher junger Autoren haben, dann kann doch nicht jedes Buch die gleiche Aufmerksamkeit erzielen?" Bong: "Kein Verlag macht sechs Romane junger Autoren in einer Saison, sondern Werke von sechs Autoren in unterschiedlichen Ausprägungen. Jeden dieser Titel muss man entsprechend positionieren." Casimir: "Herr Glavinic, spüren Sie etwas von dem Vorwurf, Autoren machten zuviel Kunst?" Glavinic: "Nein. Wir wurden angesichts des starken Bücherherbsts oft gefragt, ob wir uns vor der Konkurrenz fürchten. Das Gegenteil ist der Fall, es wurde noch nie so viel über die österreichische Literatur geschrieben. Je mehr gute Bücher da sind, desto mehr mediale Aufmerksamkeit ziehen sie an. Die Bücher helfen einander." Heimann: "Verleger beklagen sich häufig darüber, dass die Neugier auf Seiten des Sortiments fehlt." Schulz-Rother: "Es ist mühsam, die richtigen Titel auszusuchen. Möglicherweise fallen andere Titel hinten herunter." Heimann: "Setzen Sie auf die Spitzentitel oder auch auf andere Titel?" Schulz-Rother: "Ich versuche natürlich auch, meine Lieblingstitel durchzusetzen. Aber man ist irgendwann überfordert, und es tritt auch ein gewisser Sättigungsgrad ein." Bong: "In der Tat erlebt die Buchwelt eine Konzentration von allen Seiten auf immer weniger Titel. Das ist ein Riesenskandal, das darf nicht sein. Das ist fürchterlich für Sortimenter, Verlage und Autoren. Dagegen sollten wir kämpfen. Verlage funktionieren über Mischkalkulation. Wir wollen keine Subventionssysteme. Es müssen Räume geschaffen werden, die Freiheit schaffen, Bücher zu machen, die wir für wichtig halten. Daher ist das Bestsellersystem, sich immer weniger Bücher anzuschauen, problematisch." Casimir: "Halten Sie Buchpreise für einen Beschleuniger dieser Entwicklung?" Bong: "Ich halte das auf der einen Seite für gut, andererseits beschleunigt es die Entwicklung." Glavinic: "Durch den Deutschen Buchpreis etwa kann es zu einer Fokussierung auf einige wenige Titel kommen. So schön dieser Preis ist, er hat eben hier auch seine problematische Seite." Banzhaff: "Wir reden bislang nur über Belletristik. Ich gehe von der Gesamtzahl aus. Das ist eine Mischung bis hin zum billigsten Schundroman. Wenn ein Verlagsvertreter empfangen werden will, muss er einen starken Verlag in der Tasche haben. Viele Buchhandlungen empfangen immer weniger Vertreter. Die Branche hat nach langer Zeit endlich verstanden, dass sie Bücher verkaufen muss, um zu überleben. Was dem Buchhandel nicht gefällt, sortiert er aus." Schulz-Rother: "Ich habe Bauchschmerzen damit, was mit den Titeln passiert, die gar nicht mehr gekauft werden. Da wird mir Angst und bange, was mit der Preisbindung passiert. Da würde ich schon an die Verlage appellieren." Heimann: "Sind die Qualitätsmaßstäbe der Verlage und der Lektoren streng genug?" Bong: "Natürlich. Es kann nicht anders funktionieren. Jeder Verlag muss die richtige Anzahl von Titeln und Autoren für sich definieren. Zu viele Bücher sind verheerend. Da muss man sehr genau hinschauen. Wie groß ist das Lektorat, das Marketing etc. Das muss man ganz spezifisch bestimmen. Kein Titel zuviel, das ist das Gebot der Stunde." Heimann: "Sind Sie nicht gezwungen, das Programm immer wieder zu füllen?" Bong: "Nein. Das würde nicht funktionieren." Banzhaff: "Wenn man eine Marktmacht braucht - die Sie haben - um zum Buchhändler zu kommen, wendet sich das automatisch gegen die Wettbewerber." Casimir: "Der starke Bücherherbst: Helfen die Bücher einander auch am Point of Sale oder nur in den Feuilletons?" Schulz-Rother: "Das kann ich für meine Buchhandlung so nicht bestätigen. Wenn etwa im Kinder- und Jugendbuch das Taschengeld weg ist, dann ist es weg." Heimann: "Das Problem ist die Konzentration auf die Bestseller. Sehen Sie das auch so?" Schulz-Rother: "Ja. Man muss sich immer mehr auf die Vertreter verlassen. Das ist schon sehr viel stärker geworden." Heimann: "Sie können es doch ändern und Titel in den Fokus stellen, die Sie mögen." Schulz-Rother: "Das mache ich doch auch. Aber das sind natürlich ganz andere Stückzahlen. 80 Prozent sind einfach von der Bestseller-Liste, und das brauche ich auch. Bong: "Eine einzelne Buchhandlung kann sich nicht gegen den Trend stellen. Das ist eine Arbeit, die man von allen Seiten aus führen muss. Aber die Konsequenz kann doch nicht sein, die Bücher wegzulassen, die sich nicht so gut verkaufen. Warum arbeiten wir nicht daran, noch mehr Bücher für noch mehr Menschen zu machen?" Schulz-Rother: "Für uns wäre es einfacher, wenn wir aus der Vielfalt besser auswählen könnten." Banzhaff: "In den großen Buchhandlungen arbeiten Angestellte, nicht die Inhaber selbst. Da ist ein gutes Buch ein verkauftes Buch. Das ist eine Welt, die sich für uns alle verändert hat." Casimir: "Was muss auf den verschiedenen Stufen passieren, um die Distributionsproblematik zu lösen?" Schulz-Rother: "Ich würde den schwarzen Peter an die Verlage geben und sagen, macht einfach richtig gute Bücher. Ich bin gezwungen, Bücher auszusortieren. Und ich wünsche mir mehr Input von den Verlagen, zum Beispiel Ratschläge oder Zahlen von Media Control." Glavinic: "Ich bin auch ein Leser. Wie viele Bücher kann man eigentlich lesen? Im Leben vielleicht 3000 bis 4000. Ob es dann 90000 Neuerscheinungen gibt oder mehr, ist nicht relevant." Bong: "Ich glaube, dass gerade der mittlere Buchhandel eine gute Sortierfunktion übernimmt. Jetzt zu sagen, wir machen die Bücher nicht mehr, die sich nicht rechnen, das wäre schade." Banzhaf: "Ich bin der festen Überzeugung, dass die wirtschaftliche Not der Verlage durch den Markt geregelt wird. Und die, die schlechte Bücher machen, werden dann vom Markt verschwinden." Glavinic: "Natürlich gibt es auch viele schlechte Bücher. Aber das ist ganz normal. Nur 20 Prozent aller Berufstätigen machen ihren Job gut. 80 Prozent machen ihn schlecht. 80 Prozent der Autoren können nicht schreiben. Man wird auf diesem Weg also nicht argumentieren können." Banzhaff: "Es gibt eine Menge von Büchern, die niemals auf den Markt gehört hätten. Das kann man nicht wegdiskutieren."