MARKT UND MACHT: Essay über wirtschaftliche Stärke und Ödnis

Vielfalt skaliert nicht

22. Oktober 2019
von Torsten Casimir
70.000 Erstauflagen bringt die Branche im Jahr hervor. In 3.500 Buchhandlungen liegt die Ware zum Kauf. Läuft doch, oder? Schon. Aber verwechseln wir nicht Menge mit Diversität! 

Der gesamte Buchhandel folgt zwei verschiedenen Programmen. Das eine heißt Wirtschaft, das andere heißt Kultur. Das zusammengesetzte Hauptwort Kulturwirtschaft tut so, als ließen sich beide Programme nett miteinander verheiraten. Das Hauptwort hat keine Ahnung.

Das Programm Wirtschaft stellt die Forderung, aus eigener Kraft an einem Markt zu agieren und zu schauen, dass die Erträge auf Dauer höher sind als die Kosten. Wer dieser Forderung nachkommt, achtet darauf, dass die Prozesse effizient ablaufen, dass Menschen produktiv arbeiten, dass es für die eigenen Produkte genug Nachfrage gibt, dass Geschäfte skalierbar sind, dass also – knapp formuliert – nach einmal unternommener Anstrengung ohne viel zusätzlichen Ressourcenverbrauch viele Rechnungen geschrieben werden können.

Das Programm Kultur zielt auf Vielfalt und Qualität. Ihm verdanken Hersteller wie Händler ihr kostbarstes politisches Privileg: feste Ladenpreise für Bücher. Das Gesetz lässt keinen Zweifel an seinem Zweck. Es sichere, so steht es gleich eingangs darin, "den Erhalt eines breiten Buchangebots", ebenso dessen Zugänglichkeit, "indem es die Existenz einer großen Zahl von Verkaufsstellen fördert".

In der Auslegung stimmen Preisbindungsexperten überein, dass es im Kern der Vorschrift um den Schutz autonom getroffener Produktions- und Einkaufsentscheidungen geht. Je weniger Menschen in Verlagen und Buchhandlungen eigenwillig an der Erstellung der Programme beziehungsweise Sortimente beteiligt sind, desto ferner rückt das gesetzliche Ziel der Vielfalt. Standardisierung und Zentralisierung sind, so gesehen, die natürlichen Feinde der Artenschützer.

Mit anderen Worten: Vielfalt skaliert nicht.

Aber auch die Gegenthese hat etwas Einleuchtendes: Hohe Individualität und Autonomie, großer Beschaffungsaufwand für die Produkte und deren überwältigende Diversität nagen an den Deckungsbeiträgen. Prozesse sind nicht effizient, die Ware dreht sich sehr langsam. Zahlreiche kleine Buchhandlungen wären schon nicht mehr am Markt, könnten sie nicht von Prozessstandards und den marktkundigen Einkäufern der Barsortimente profitieren.

Nun ist die Beobachtung so neu nicht, dass auf dem Weg zwischen Wirtschaftlichkeit und Individualität Equilibristen einen Vorteil haben. Aber meistert die Branche insgesamt ihren Drahtseilakt noch gut genug?

Gegenwärtig gibt es einige Evidenz dafür, dass sich der Markt zulasten der Bibliodiversität verändert. Zwar geht es noch schlimmer. Man schaue nur auf die Lage im Lebensmitteleinzelhandel, wo die vier Riesen Edeka, Rewe, Aldi und Lidl / Kaufland beinahe unter sich ausmachen, was Deutschland isst und trinkt (selbst Kartellwächtern, die mit deutlich geringerem Anspruch an Vielfalt als etwa ein Kulturpolitiker die Marktverhältnisse beurteilen, wird es langsam blümerant). Hinzu kommt hier noch, dass die mächtigen Lebensmittelkonzerne das Spiel von Lieferstopp und Auslistung auf gleicher Augenhöhe mitspielen. Nicht schön für Verbraucher.

Oder man laufe wachen Sinnes durch die hiesigen Wälder, deren Fläche zu drei Vierteln von nur vier Baumarten bedeckt wird; die Waldgesellschaft (heißt wirklich so!) wird langweiliger. Warum soll es den Wäldern besser gehen als den Supermärkten?

Im Licht des Schlechteren ist es um die Buchvielfalt noch recht gut bestellt. Die Gefahren lassen sich jedoch bereits greifen. Allem voran bereitet die ­enorme Spreizung der Händlerrabatte Sorgen. Sie führt dazu – ironischerweise unter Geleitschutz des Gesetzes, das allen den Preiswettbewerb erspart –, dass die Margen marktmächtiger Händler größer werden. Zwar fließen deren gute Ergebnisse zu einem Teil in Innovationen, die den Gesamtmarkt festigen und die kleinere Buchhändler so nicht leisten können. Und doch füllen sich die Kassen der Großen für Zukäufe unabhängiger, mit kleineren Margen wirtschaftender Buchhandlungen sehr verlässlich.

In der Folge ist absehbar, dass die Konditionenansagen in Richtung herstellenden Buchhandel für diesen langfristig nicht mehr auskömmlich bleiben. In beachtlicher Deutlichkeit nennt der Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins, Alexander Skipis, diese Rabattspreizung bereits jetzt "das Gift, das den Buchmarkt zersetzt".

Bedarf es also stärkerer Regulierung auf der zweiten Handelsstufe, sprich: der ­Deckelung von Rabatten für Großabnehmer per Gesetz? Wer so fragt, betritt vermintes Gelände – sowohl im Feld der ­Politik, die an dem Punkt derzeit nicht auf Empfang schaltet, als auch auf dem Buchmarkt selbst. Noch ist es ja auch so, dass wirtschaftsstarke Verlage bessere Renditen erzielen als sogar die meisten großen Händler. Letztere werden auch nicht müde, von ihren Lieferanten eine höhere Beteiligung an den Investitionen in die Sichtbarmachung der Produktion zu verlangen. Man schaut auf ein Geschacher mit geradezu diametralen Positionen.

Auch das Verständnis davon, was Vielfalt überhaupt meint, ist uneinheitlich. Große Firmen fühlen sich falsch gesehen, wenn im Kontext der Buchvielfalt nur von kleinen unabhängigen Verlagen und Händlern die Rede ist. Die Rolle des "peinlichen fetten Verwandten" (so formuliert es eine, die lange in Diensten eines Top-Filialisten stand) lehnen die Konzerne und Ketten dankend ab. Ihre Konterfrage: "Wer sorgt denn für Vielfalt auf den Flächen, wenn nicht wir, wer kurbelt Umsatz und Absatz an?" Stimmt ja auch, irgendwie.

Heinrich Hugendubel zum Beispiel war ein Vorkämpfer für Artenvielfalt am Buchmarkt. Jede und jeder sollte die Möglichkeit haben, sich in ein Buchkaufhaus zu setzen, zu stöbern und zu blättern in einer Fülle des Angebots. Nichts Geringeres als die Demokratisierung des Buchhandels stand hinter seinem Konzept. Hinter den Ideen der Gastgeberschaft und Leseberatung, wie seine Kinder sie verfolgen, die den Filialbuchhandel bedarfsorientiert weiterentwickeln, scheint jener Ursprungsimpuls des Vaters noch durch.

Und doch hätte man keine Vielfalt im Sinne der kulturpolitischen Norm, wenn Deutschlands Buchlandschaft nur von Thalia- und Hugendubelläden plus Mayersche und Osiander besiedelt wäre. Das ist wie im Wald: Schön, dass Fichte, Kiefer, Buche und Eiche so prächtig wachsen. Aber nicht interessant genug.

Wo sind die Tipping Points? Wann kippt Marktmacht um in Ödnis? Wann mündet die Stärke der Einzelnen in eine Schwäche des Ganzen?

Das Thema lässt sich auch auf der Ebene der in der Branche Beschäftigten deklinieren. Tom Kraushaar tat es gerade erst in einem "FAS"-Interview. Es werde bei uns »zu viel über Technologie und Handelsstrukturen geredet und zu wenig über die Menschen«, meint der Verleger von Klett-Cotta. Und fordert: "Wir sollten unseren Mitarbeitern die Möglichkeit geben, an einem Arbeitsprozess teilzuhaben, der mehr produziert als die Ware Buch."

Damit schließt sich ein gedanklicher Kreis zur Auslegung der Preisbindungsvorschrift. Man kann sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem sinnproduzierenden Gewerbe doch nur vorstellen als Menschen, die mitentscheiden möchten, was produziert und was zum Kauf angeboten wird. Je höher deren Zahl, desto besser ist das für den Schutz von Bibliodiversität. Desto vitaler wiederum funktioniert der gesamte Markt.

Hier geben sich die auseinanderstrebenden Programme Kultur und Wirtschaft schließlich die Hand: Je weniger Menschen an der Herstellung von Buchvielfalt autonom beteiligt sind, desto mehr wird die Branche ihrer wichtigsten Ressource beraubt: all der Kreativen, die anderswo mehr verdienen könnten und trotzdem bleiben. Und die mit ihrer Arbeit dafür sorgen, dass der Kundschaft kein Einheitsbrei serviert wird.