Sarkasmus, heißt es in der 21. Auflage der Brockhaus Enzyklopädie, sei »beißender, verletzender Spott, Hohn«. Eben damit wurde die ehrwürdige Marke von einigen Kommentatoren und bissigen Bloggern überzogen, als die Nachricht von der Online-Offensive des Mannheimer Unternehmens bekannt wurde. Von »letzten Zuckungen« einer Traditionsmarke war die Rede, davon, dass »Brockhaus am Ende ist. Punkt.«
Doch ist der Strategiewechsel, ob nun längst überfällig, verspätet oder zum »richtigen Zeitpunkt«, wie Brockhaus kommuniziert, nur eine präsuizidale Verzweiflungstat? Oder ist es nicht doch möglich, dass Brockhaus online zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz für Wikipedia, Spiegel Wissen und weitere Wissensplattformen heranwächst? Wer Einblick in das neue Projekt nehmen konnte, wird feststellen: Hier wird nicht mit offenen Plattformen oder Betaversionen experimentiert, sondern ein Wissensfundus aufbereitet, der hohe Maßstäbe an Qualität und Relevanz anlegt.
Der publizistische Spießrutenlauf, dem Brockhaus nun von Teilen der Presse ausgesetzt ist, war vorhersehbar klingen doch in den Ohren der meisten Kommentatoren noch die Lobeshymnen nach, die Brockhaus beim Start des Enzyklopädie-Projekts gesungen hatte am sinnfälligsten während der Sprechgesang-Performance auf der Frankfurter Buchmesse 2005. Nun sind die Vorschusslorbeeren längst welk.
Viel wichtiger als die Frage, ob Brockhaus die Entwicklung in der Medienwelt verschlafen hat, ist jedoch die Frage: Welche Folgen hat der Tod des klassischen Lexikons für die Wissenskultur und für das Buch?
1.) Es werden künftig Referenzwerke fehlen, die Auskunft geben über den Wissensstand einer Kultur und einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt. Gedruckte Enzyklopädien dokumentieren den jeweiligen Stand der Wissensbildung und den Wissenskanon einer bestimmten Zeit. Sie waren Zäsuren in der Wahrnehmung des gesammelten Wissens einer Ära, einer Epoche später, im 20. Jahrhundert, nur noch einer Legislaturperiode. Im Zeitalter der Online-Lexikonplattformen gibt es jedoch nur noch Artikelversionen. Ab und zu wurde etwa der aktuelle Stand von Wikipedia auf einer CD-ROM dokumentiert. Doch die Artikel waren jeweils auf einem höchst unterschiedlichen redaktionellen Stand. Und kaum jemand machte von dieser Art der Wissensdokumentation Gebrauch.
2.) Die durch die beschleunigte Netzkommunikation erzeugte Gleichzeitigkeit des verfügbaren Wissens oder zumindest deren Illusion lässt den gedruckten Wissensspeicher als obsolet erscheinen zumal mit schrumpfenden Zeitbudgets die Frage nach der Dauer des Wissenszugriffs immer stärker in den Vordergrund gerückt ist. War vor zehn Jahren der Griff ins Regal schneller und im Ergebnis effizienter, ist es im Flatrate-Zeitalter ein Klick. Zudem befindet sich das gesammelte Wissen in einer »permanenten Revision« (in Abwandlung des bekannten Mao-Theorems). Die Umtriebigkeit in der Wissenswelt erzeugt den Eindruck, in der virtuellen Bibliothek bliebe im Extremfall über Nacht kein Wissensbaustein auf dem anderen. Der Umwälzungs-Koeffizient nähme bei der Wissensproduktion und revision stündlich höhere Werte an. Ob das stimmt, und ob nicht der größere Teil unseres Wissens ziemlich stabil bleibt, müsste man prüfen. Richtig ist aber wohl die Beobachtung, dass der Wissenszuwachs nicht mehr stufenartig erfolgt, sondern stetig auf einer nach oben offenen Parabel.
3.) Ob mit diesem Befund das Buch erledigt ist, ob man »Lexitus« attestieren muss (wie Hendrik Werner in der »Welt« vom 13. Februar), gilt noch nicht als ausgemacht. Denn mit einigem Abstand wenn man sich einmal in den klassischen Lesesessel zurücklehnt, in dem man früher auch in gebundenen Lexikon-Schwarten geschmökert hat wird man einen Appetit nach fundiertem, selbst erarbeitetem Wissen verspüren, der die vielen Online-Fastfood-Lieferanten alt aussehen lässt. Vielleicht mischt sich unter dieses Gefühl eines intellektuellen Vakuums sogar ein wenig Verdruss oder Abscheu gegen die sekundenschnelle Abfütterung mit Wissenshäppchen aus der Online-Mikrowelle. Und man kann nur hoffen, das Brockhaus mit seinem Online-Auftritt nicht der Versuchung unterliegt, dies nachzuahmen. Lifestyle hat nämlich nichts oder nur wenig mit dem Stil eines Zeitalters zu tun.
4.) Genau an dieser Stelle liegt die Stärke des Buchs: Es ist nicht nur wie viele Internetplattformen eine flache Wissenssammlung ohne jede Erkenntnishierarchie, sondern es eröffnet einen imaginären, mehrdimensionalen Raum, in dem sich der Leser im Idealfall selbst Orientierung verschafft, Strukturen aufdeckt und Netze spannt. Lesen in diesem Sinne ob im Roman oder beim Blättern eines Lexikons ist ein kognitiver Akt, ist Wissenserwerb, nicht nur flüchtige Wissenskonsumtion. Wissen durch lustvolle Anstrengung zu erwerben, wird aber auch für kommende Generationen ein Thema bleiben besonders eindrucksvoll zu beobachten bei Kindern, die zwar schon das Internet nutzen und dennoch für die Faszination des Buchs, auch des gedruckten Kinderlexikons, empfänglich sind.
Für Brockhaus ist das gedruckte A-Z-Lexikon keine Option mehr, weil es sich nicht mehr verkauft. Aus dem Ende eines Geschäftsmodells zu schließen, Wissensbücher hätten sich überlebt, ist allerdings zu kurz gedacht. Eine Enzyklopädie, die den Wissensstand einer Zeit dokumentiert, bleibt notwendig, nicht nur aus historischen Gründen.
Brockhaus, und deshalb darf man auf den Start des Online-Auftritts gespannt sein, befindet sich allerdings in dem Dilemma, seinen traditionsgeprägten Markenkern in einem Umfeld zu bewahren, in dem die klassische Form des Wissenserwerbs nur noch wenig zählt. Das ist Chance wie Bürde zugleich. Bleibt zu hoffen, dass der Anspruch des großen Namens in der Zentrifuge des Internets nicht allzu schnell zerbröselt und für immer verfliegt.