Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik

Leiser Experte mit raumgreifenden Fragen

24. Februar 2020
von Börsenblatt
Der Literaturwissenschaftler und Kritiker Christian Metz wird dieses Jahr mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet. Ein Porträt.

Wann haben Sie das letzte Mal beim Lesen eines Gedichts geweint? Der Literaturkritiker Christian Metz ist jemand, der mit leiser Stimme spricht, doch die Fragen, die er stellt, sind gewaltig und raumgreifend. Wahrscheinlich würde jeder bejahen, dass gute Texte Emotionen hervorrufen. Wie unser Bild, das wir uns von diesen Emotionen machen, aber erst durch die Literatur erzeugt und dann immer wieder reproduziert wird, das ist kompliziertes Terrain, für das man eine Menge Wissen über die Verfasstheit des Menschen und seine Vorstellungswelt braucht.

Metz, 1975 in Bad Homburg geboren, studierte Biologie und Germanistik, bevor er begann, Bücher über komplexe Gefühle wie die Liebe und reflexhafte wie den Kitzel zu verfassen. Seine Monografien sind bei S. Fischer und De Gruyter erschienen. Sie markieren eine Sparte der Literaturtheorie, die man als »Emotionsnarratologie« bezeichnen könnte, klänge dieser Begriff nicht viel zu sperrig angesichts der Sprache dieses Autors, die ganz unprätentiös und leicht ist. Für seine Verdienste um die anschauliche Vermittlung von Literatur wird ihm in diesem Jahr der Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik verliehen, der seit 1977 vom Börsenblatt vergeben wird und exzellentes literaturkritisches Wirken auszeichnet.

Metz vertritt die Professur für Literaturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts sowie Ästhetik an der Frankfurter Goethe-Universität, leitete früher das dort angesiedelte Programm Buch- und Medienpraxis und lebt heute in München. Seine Texte erscheinen seit zehn Jahren im Feuilleton der »FAZ« und in Szenezeitschriften, außerdem arbeitet er für den Deutschlandfunk. Er hat bis zu seinem 35. Lebensjahr gewartet, bis er sich für den öffentlichen Diskurs bereit fühlte. »Ich komme noch aus einer alten Schule, die sagte: Man publiziert nichts vor seiner Dissertation«, sagt er. Expertise sei gefragt, kein heißdüsiges Palavern.

Metz versteht sich als professioneller »Vor-Leser«, der aus der Universität heraus für die breite Öffentlichkeit schreibt. Literaturwissenschaft und -kritik sind in seinen Augen nicht zu trennen, weil die Methoden der einen die Voraussetzung der anderen sind. »Ich will die Charakterzüge eines Autors herausarbeiten und darüber ein fundiertes Urteil fällen«, so Metz. Polemiken, mit denen sich andere Kritiker hervortun, wird man bei ihm nicht finden. Stattdessen genaue Lektüre, die ein informiertes Gespräch über die Werke eröffnet.

Metz publiziert über Lyrik, legt auch einen Schwerpunkt auf spanischsprachige Literatur und ist ein Experte für Gegenwartsdichtung. Sein 2018 veröffentlichtes Buch »Poetisch denken« (S. Fischer) zieht eine Bilanz der deutschen Lyrik im frühen 21. Jahrhundert. Außerdem widmet er sich Zeitgeistphänomenen wie der Digitalisierung und untersucht beispielsweise, wie Lady Gaga auf Twitter »Liebeskommunikation« mit ihren Fans betreibt und dabei einen Code »digitaler Intimität« verwendet. Es ist für Metz gar kein Problem, dass wir heutzutage nicht mehr über Gedichte weinen, sondern eher vor einer Instagram-Story schluchzen: Das, was digitale Medien in uns aus­lösen, lässt sich weiterhin literaturwissenschaftlich analysieren – ebenso wie die zeitgenössische Funktion einer Lyrik, die nicht mehr primär für Gefühlsmanipulationen zuständig ist. Christian Metz bringt seine Leserinnen und Leser dazu, solche Vorgänge zu verstehen und fasziniert zu begleiten.