Leipziger Buchmesse

Buch ist leitendes Medium in die Zukunft

12. März 2008
Redaktion Börsenblatt
Zerstört Konzentration über kurz oder lang die Vielfalt der Bücher? "Wenn mit dieser alten Frage nun eine neue, die Verbindung von Groß und Klein zerstörende Konzentration und Verdrängung einhergeht, wie die Entwicklung der letzten Monate es andeutet, wird der Börsenverein in kürzester Frist eine Antwort finden müssen", sagte Börsenvereins-Vorsteher Gottfried Honnefelder zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse. Hier die Rede im Wortlaut:
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Milbradt, lieber Herr Oberbürgermeister Jung, verehrte Damen, meine Herren. I. Wenn die englische Sprache von dem sprechen will, was wir im Deutschen mit Bildung bezeichnen, braucht sie ein Wort, für das wir im Deutschen kein Äquivalent besitzen, was aber etwas über das Geheimnis von Bildung sagt, das selbst mit dem schönen deutschen Wort Bildung nicht zum Ausdruck kommt: Sie braucht das Wort literacy. Was literacy meint, ist schwer übersetzbar. Natürlich meint es die Fähigkeit zum Umgang mit den litterae, also das Lesen und Schreiben. Aber literacy meint mehr: Es meint nicht nur die Fähigkeit, sich ausdrücken und verstehen zu können, sich füreinander zu öffnen und in Austausch zu treten, sondern über das Mittel zu verfügen, sich die vorhandene Welt in ihren Dimensionen zu erschließen, neue Welten zu schaffen und in fremde eintreten zu können. Kurz, literacy ist – wie Bildung – der Prozess, durch den wir zum Menschen werden. Nur sagt der englische Ausdruck – anders als der der Bildung – dass es die Buchstaben sind oder besser der schöpferische Umgang mit ihnen, der den Menschen allererst auf die Höhe der ihm möglichen Kultur hebt. Die Buchstaben stehen für ein Ganzes. Wer sie nur als Instrumente versteht und das Lesen und Schreiben nur als formale Fertigkeiten anpreist, hat die Pointe des Ganzen nicht erfasst, um das es geht: Buchstaben, Schreiben, Lesen sind Schlüssel zum Kostbarsten einer humanen Welt, Möglichkeiten der Erhebung des Menschen über sein biologisches Dasein hinaus, Quellen von Sinn und Bedeutung, Eingänge in verborgene Welten, Stufen einer reicher werdenden kulturellen Entwicklung. II. Nicht ohne Grund ist daher unsere Kultur unlösbar mit der Entwicklung und Entfaltung der literacy verbunden, ja mit ihr identisch. Und wo weiß man das mehr als in Leipzig, der Stadt, in der der Handel mit dem Buch zum Schlüssel einer geradezu revolutionären Verwandlung unserer Lebenswelt wurde. Und wer weiß das besser als der, der Bücher macht und sie vertreibt, nämlich der Buchhandel, der sich deshalb nicht ohne Grund 1825 hier in Leipzig zu einem Börsenverein zusammengeschlossen hat. Ein solcher Berufsstand kann sich gar nicht anders denn im Dienst der Bildung als literacy verstehen. Ja, er muss sich selbst als einen Teil dieser literacy begreifen und dieser Teil sein wollen und bleiben, soll nicht seine radikale Selbstfunktionalisierung zu einer Selbstmarginalisierung werden, an dessen Ende auch die ökonomische Selbstpreisgabe steht. III. Was bedeutet das konkret? Ich möchte vier Stichworte nennen: Es bedeutet erstens, dass der Buchhandel literacy als seine Aufgabe betrachten muss. Das hat er getan. Seit 1959 unterstützen die deutschen Buchhändler und Verleger das Lesen und Vorlesen aktiv, seit dieser Zeit haben sich über 15 Millionen Schülerinnen und Schüler der sechsten Klassen in Deutschland auf Initiative des Börsenvereins mit ihren Lieblingsbüchern beschäftigt. Der Börsenverein macht damit und mit weiteren Projekten, die das Zusammenspiel von Medien unterstützen, Lust auf Lesen als Grundlage für die Lust am Sich-Bilden. Es bedeutet zweitens, dass der Buchhandel selbst ein Teil der literacy bleiben muss. Deshalb wirkt der Börsenverein in die Buchbranche hinein durch eine neue Bildungsoffensive für Verlage und Buchhandel, die er in diesem Jahr zu seinem Schwerpunkt gemacht hat. Der Börsenverein verstärkt sein Bildungsangebot für die Branche, modernisiert das Berufsbild des Buchhändlers und mobilisiert und motiviert die Branche, sich dieser Offensive anzuschließen. Bildung, literacy, als Lebensmittel. Auch als Mittel, um im Wettbewerb zu überleben. Während der kommenden fünf Tage zeigt der Börsenverein auf der Leipziger Buchmesse auf seinem „Forum Zukunft“, was er unter Weiterbildung für die Branche versteht: digitales Wissen, Fähigkeit zur Selektion, Kompetenz zum eigenen Urteil und Einfühlungsvermögen in den Leser, den Nutzer, den Kunden, den Markt. Wie notwendig eine solche „Bildungsoffensive“ ist, zeigt sich täglich. Wir alle in der Branche – die erfahrenen Verleger und Buchhändler und die Nachwuchskräfte – müssen in der Lage sein, eine ständig wachsende Komplexität auszuhalten, sie zu verarbeiten und auf sinnvolle Grundstrukturen reduzieren zu können. Wir müssen gleichzeitig immer schneller aufeinanderfolgende Innovationen aufnehmen, einordnen und bewerten. Beide Kompetenzen sind erforderlich, um unsererseits Innovationen zu setzen und neue Geschäftsmodelle aufzubauen und um Leser, die ebenfalls dieser wachsenden Kompetenz ausgesetzt sind, für Bücher zu begeistern und ihnen bei der Auswahl zu helfen. Das erfordert Wissen, Offenheit und Lernfähigkeit. Es erfordert den Willen, den Wunsch und die Leidenschaft, lernen zu wollen. Und drittens: Ein Buchhandel, der literacy ermöglichen und befördern will, muss selbst Teil dieser literacy sein. Das erfordert eine gegliederte Markt- und Handelslandschaft, keine öde Uniformierung. Das erfordert einen Umgang mit der Ware, der sie der „Schleuderei“ entzieht, gegen die hier in Leipzig einst mutig und vehement der Börsenverein gegründet wurde, auch um sich auf verbindliche Handelsrabatte zu einigen. Das Buch ist kein Industrieprodukt, das sich beliebig und massenhaft vermarkten lässt. Die Buchpreisbindung soll das Weiterbestehen des Buchhandels vor Ort mit Kompetenz und Nähe zum Kunden fördern, nicht aber zum Verdrängungswettbewerb führen. „Es ärgert mich schon lange, dass immer wieder behauptet wird, die Preisbindung, die ursprünglich die kleinen und mittleren Buchhändler schützen sollte, sei inzwischen vorteilhafter für die Großen, weil sie ihnen einen Wettbewerb erspare und die Möglichkeiten gebe, die Expansion aufgrund der hohen Rabatte immer weiter zu treiben. Das ist nur die halbe Wahrheit. Denn wenn es zusätzlich noch einen Preiswettbewerb gäbe, hätten es die kleinen und mittleren Firmen noch viel schwerer.“ Groß und Klein – mit diesen Sätzen hat dieser Tage Dieter Wallenfels – als jahrzehntelanger Preibindungstreuhänder einer der erfahrensten Beobachter des Buchmarktes – den inneren Zustand des Verlags- und Buchhandelswesens in Deutschland auf den Nenner gebracht. Die alte Frage also, ob Konzentration und Verdrängung über kurz oder lang die Vielfalt der Bücher zerstört, an deren Sinn Verleger und Buchhändler seit nahezu zwei Jahrhunderten festhalten und deren Erhalt heute ihre Pflicht ist für ein vom Gesetz gegebenes Privileg? Wenn mit dieser alten Frage nun eine neue, die Verbindung von Groß und Klein zerstörende Konzentration und Verdrängung einhergeht, wie die Entwicklung der letzten Monate es andeutet, wird der Börsenverein in kürzester Frist eine Antwort finden müssen. Und er wird es tun. Dabei könnten die Nachrichten dieser Tage über die Entwicklung des Buchs nicht besser sein: Um 3,9 Prozent ist im vergangenen Jahr der Umsatz mit Büchern auf den Hauptvertriebswegen – vom Sortimentsbuchhandel bis zum E-Commerce – gestiegen. Die mit Abstand beste Entwicklung seit Jahren. Das Buch in seiner kodifizierten Form – mitten im Funktionswechsel mit den digitalen Medien – also wiederum leitendes Medium in die Zukunft? IV. Wenn das Ziel der Verleger und Buchhändler die nach allen Seiten Gewinn bringende Förderung der literacy bleiben soll und nicht der ökonomische Gewinn einiger weniger, muss – und das ist mein vierter und letzter Punkt – Leipzig Leipzig bleiben. Das bedeutet, dass die Leipziger Buchmesse nach wie vor für Bildung begeistert. Nicht nur kommen in jedem Jahr Tausende von Schülerinnen und Schüler in die Messehallen, das Frühjahrs-Event des Buches hat sich auch als zentraler Platz für Kinder- und Jugendliteratur etabliert. So haben die Veranstalter in diesem Jahr das Programm ausgebaut und noch stärker auf Leseförderung und frühkindliche Bildung ausgelegt. Zudem wurden zentrale Partnerschaften im Bildungsbereich eingegangen. Bücher sind ein zentraler Bildungsträger, deshalb ist eine Messe wie die Leipziger Buchmesse auch eine vorbildhafte Bildungsveranstaltung. Leipzig präsentiert mit der Messe und ihrem Rahmenprogramm nicht nur Buchkultur im eigentlichen Sinn, sie präsentiert auch eine Bildungskultur, die Lust macht am Lesen, am Lernen und damit auch am „Kennenlernen“. Denn Kennenlernen ist mehr als Daten speichern und Wissen verwalten. „Kennenlernen“ bedeutet Eigeninitiative, Neugier auf Neues, Interesse an der Erfahrung. Dazu lade ich herzlich ein.