Im Osten geht die Sonne auf, im Westen geht sie unter - so suchte man einst in der größten DDR der Welt die Überlegenheit des Klassenfeindes mit Galgenhumor zu kompensieren. Fast 20 Jahre nach dem Mauerfall scheint der Westen auch in Sachen Textfestigkeit beim kämpferischen Liedgut die Nase vorn zu haben. Rudolf Sommer, Einkaufsleiter bei KNV in Stuttgart, war der einzige auf dem Podium, der das titelgebende "Kampflied der Bouquinisten" (Rainer Nitsche) in allen drei Strophen auswendig beherrschte. Doch der schwäbische Barsortimenter war nicht gekommen, um zu singen. Gemeinsam mit Klaus Finke, Leiter der zu Schweitzer Fachinformation gehörenden Unibbuchhandlung Leipzig, dem Erfurter Buchhändler Peter Peterknecht und dem Verlagsvertreter Jürgen Fiedler sollte er dem unabhängigen Buchhandel zwischen Rostock und Suhl den Puls messen.
"Noja. Noja. Noja." So oder so ähnlich lautete die Lageeinschätzung, die Moderator Jörg Sundermeier (Verbrecher Verlag) in den Leipziger Messehallen von selbst betroffenen Sortimentern erhielt. Die Übersetzung des Orakelspruchs durch die Diskutanten fiel unterschiedlich aus. "Ich sehe DEN Buchhandel im Osten nicht als Problemkind", beharrte Peter Peterknecht trotzig: "Ich betrachte ihn so wie den Buchhandel im Süden, Westen und Norden Deutschlands." Klaus Finke, der es als Filialist und Fachinformations-Spezialist hauptsächlich mit institutionellen Kunden zu tun hat, wollte nicht klagen. Es war der in Ost- wie Westlanden reisende Vertreter Klaus Fiedler, der Tiefenschärfe in die Debatte brachte. Natürlich gebe es Probleme, die in den strukturschwachen Gebieten des Ostens, in Klein- und Mittelstädten der Provinz, besonders stark durchschlügen: "Die Leute kaufen zunehmend in großen Einkaufszentren auf der grünen Wiese ein, das führt in den Städten zum weiteren Abzug der ohnehin schwächeren Kaufkraft und macht das tägliche Besorgungsgeschäft schwer." Dazu ächze der Osten unter demographischen Problemen: Eine Stadt wie das sächsische Glauchau habe mit ihren 20.000 Einwohnern heute einen Altersschnitt von 50; in der idyllischen Lausitz komme auf 30 Männer eine Frau - was nicht nur für bindungswillige Herren, sondern für den Verkauf von Belletristik und Unterhaltungsliteratur eine mittlere Katastrophe sei.
KNV-Mann Sommer, hielt dagegen, dass sich sowohl die Bestseller-Landschaft als auch das durchschnittliche Ladenpreis-Niveau in Ost und West während der letzten 16 Jahre weitgehend angenähert hätten - mit der Einschränkung, dass im Osten eher nach niedrigpreisigen Titeln gefragt würde, und Warengruppen wie etwa Esoterik kaum eine Rolle spielten. 13 Prozent ihres Umsatzes machen die Stuttgarter heute in den neuen Bundesländern und Berlin.
Angesichts der Flächen- und Bevölkerungsverteilung muten solche Zahlen fast beruhigend an. "Sitzen wir dann vielleicht in der falschen Veranstaltung?", bohrte Moderator Sundermeier nach - schließlich gebe es mittlere und kleine Independent-Verlage, die zwar hin und wieder Bestseller landeten, im Osten aber außerhalb der Hugendubel- und Thalia-Filialen noch immer kaum einen Fuß in die Buchhandlungstüren bekämen.
Wieder war es Fiedler, der mit differenzierten Einsichten punktete: Neben prosperierenden ostdeutschen Ballungsräumen bluteten die weitgehend entindustrialisierten kleinen und mittleren Gemeinden auf dem flachen Land sukzessive aus; die Gebietsreform in Sachsen, die die Zahl der kreisfreien Städte nahezu halbiere, würde diese Abwärtsspirale noch beschleunigen. "Klar, man kann einen Bestseller neben der Kasse aufstapeln. Aber sie haben die Kunden dafür nicht!" Hätte sich an dieser Stelle ein Buchhändler aus dem Saarland ins "Berliner Zimmer" verirrt, wäre ihm diese Situationsbeschreibung merkwürdig vertraut vorgekommen. Also doch: Deutschland, einig Buchhandels-Land?
An mangelnder Leselust im einstigen "Leseland" kann die Malaise nicht festgemacht werden: Das beweist, neben den sehr guten Ausleihzahlen der öffentlichen Bibliotheken, nicht zuletzt der rege Publikumsverkehr in den Messehallen. Und wenn neue ostdeutsche Literatur gut sei, so Peter Peterknecht, dann verkaufe auch sie sich. Siehe Ingo Schulze, siehe Clemens Meyer. Der Buchhändler aus Erfurt, wo im Elefantenrennen am Anger eben ein Filialist die Segel gestrichen hat, bekam dann sogar Szenenapplaus: "Für mich ist Deutschland EIN Land - das gilt auch für die Buchhandelslandschaft."
Dem Halberstädter Buchhändler Wilfried Bengsch, der in jenem Moment einen hohen kirchlichen Würdenträger über die Messe schleuste und nicht im "Berliner Zimmer" dabei sein konnte, hätte dies aus der Seele gesprochen. Über eine "Ost-Sonderrolle", so hatte der Vorsitzende des Börsenvereins-Landesverbands SaSaThü kürzlich dem BÖRSENBLATT anvertraut, wolle er, fast 20 Jahre nach dem Mauerfall, nicht mehr sprechen. Eher darüber, wie es dem unabhängigen Buchhandel gelingen könnte, mit schlagkräftigen Einkaufsgemeinschaften, Kooperations-Modellen und tagtäglichem kollegialen Erfahrungsaustausch die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Wohlgemerkt: In Ost UND West. Sortimenter, hört die Signale!
nk