Meinung

Wenn die Turmuhr zweimal schlägt

20. März 2008
Redaktion Börsenblatt
Rainer Moritz über Autoren und deren manchmal über die Maßen große Ausdauer - nach der Lesung.
Wer Autorenlesungen veranstaltet, kennt das: Wenn die letzte Frage gestellt, das letzte Buch signiert ist und sich die Besucher verabschieden, ist noch lange nicht Schluss. Jetzt gilt es, Einfühlsamkeit an den Tag zu legen und in die abschließende Betreuungsphase einzutreten. Wer schon wird so hartherzig sein, eine Autorin, die vor einer Handvoll Zuhörer ihr Bestes gegeben und einen in der finnischen Tundra angesiedelten Monolog einer einsamen Bäuerin heruntergerasselt hat, sofort ins Hotel oder auf die Bahn zu schicken? Nein, eine Lesung ist weit mehr als eine Lesung, stellt vor allem beim geselligen Beisammensein danach die größten Herausforderungen. Nehmen Sie zum Beispiel die beklagenswerte Buchhändlerin aus Nordwürttemberg, die mir neulich berichtete, welche Strapazen sie auf sich nehmen musste, um einen fast nobelpreisverdächtigen Schriftsteller zufriedenzustellen. Nach der – leider mäßig besuchten – Lesung habe man sich wie immer in ein urwüchsiges Wirtschäftle begeben, um dem gebeutelten Autor mit Zwiebelrostbraten, Maultaschen und Trollinger aufzupäppeln und Schreibblockaden zu verhindern. Schön sei es gewesen, gewiss, aber dann doch sehr spät, so spät, dass die Turmuhr längst zwei Uhr geschlagen und Wirtin Margarete Krug vor lauter Müdigkeit kaum noch das Viertelesglas habe nachfüllen können. Der Autor, der – so die Buchhändlerin – dem weiblichen Geschlecht gegenüber sehr aufgeschlossen sei, habe kein Ende gefunden, keine Rücksicht darauf genommen, dass ein ordentlicher schwäbischer Buchladen morgens um neun wieder seine Türen zu öffnen habe. Mit der nächsten Lesung lasse sie sich nun Zeit, lade allenfalls altersschwache Schrift­steller ein, die Coco Chanels Maxime »Nach Mitternacht amüsiert mich nichts mehr« beherzigten. Nicht alle Literaturveranstalter sind so hartgesotten; manche besuchen psychologische Seminare, die den Umgang mit Künstlern bei der Nudel danach trainieren. Dass Autoren für ihren Vortrag in höchsten Tönen gelobt sein wollen, dass sie nach den Vertretern der Ortspresse Ausschau halten, darauf setzen, dass neben ihnen am Tisch die attraktivsten, nicht ständig von ihren Partnern redenden Angestellten der Buchhandlung platziert werden, davon ausgehen, dass sich der Buchhändler reichlich mit signierten Exemplaren eindecken will – versteht sich alles von selbst. Wer sagt denn, dass Lesungen für alle Beteiligten das pure Vergnügen sind? Irgendwann freilich – hier gilt es, mit den Wirtsleuten im Vorfeld Absprachen zu treffen! – beginnen die Kellner hoffentlich die Stühle hochzustellen, kräftig durchzulüften ..., sodass man es wagt, mit den Hufen zu scharren und in das rettende Resümee »Ach, das war ein schöner Abend« einzustimmen. Dann vielleicht merkt selbst der unaufmerksamste Autor, was die Stunde geschlagen hat. Es sei denn, er möchte sich partout nicht von der blonden, ihn anbetenden Auszubildenden trennen und flüchtet in den Ausruf »Einen Rioja nehmen wir noch!«. Das sind jene Momente, wo man zu der Erkenntnis gelangt, dass man vielleicht auch in anderen Berufen glücklich geworden wäre.