Wieder fand der Vorlesewettbewerb im Kulturzentrum Wabe am Prenzlauer Berg statt, reizvoll gelegen am Rand des Thälmannparks, im Schatten sozialistischer Wohnmaschinen.
Sechs Lektoren teilen sich die nicht unbedingt beneidenswerte Aufgabe, aus den 650 für den Wettbewerb angenommenen Manuskripten die 22 Kandidaten für die Vorlesebühne herauszuqualifizieren. Immerhin, während sie im Verlagsalltag Texte auf ihre Chance am Literaturmarkt einschätzen müssen, können sie sich hier auch mal schräge Vorlieben gestatten. Ob die Manuskripte interessant sind, ist das Entscheidende. Dagmar Fretter vom Schöffling-Verlag beschrieb, wie sie die Einsendungen zunächst in drei Kategorien einteilte: in Das geht gar nicht, Hm,hm und Das könnte was werden.
Seit vergangenem Jahr ist einer der drei Preise für Lyrik reserviert. Die Zahl der Gedicht-Einsendungen wächst kontinuierlich in diesem Jahr waren es bereits 120 Beiträge. Dass sich mit Lyrik kein Geld verdienen lässt und auf sie deshalb auch keine begehrlichen Erwartungsblicke geworfen werden, macht sie zum attraktiven ästhetischen Spielfeld, auf das sich begibt, wer es nicht lassen kann. Der dritte Preis wurde von der Jury (in diesem Jahr Feridun Zaimoglu, Thomas Glavinic und Monika Rinck) an Thien Tran vergeben. Der 1979 in Südvietnam geborene und seit 1982 in Deutschland lebende Autor überzeugte mit einer unangestrengten lyrischen Sprache, die Motive und Perspektiven aus Computertechnik, Linguistik und Naturwissenschaft mit privaten, existentiellen Momenten verbindet. Aufs Podium gebeten, dankte Tran verlegen Gutenberg und der deutschen Buchkultur, anstatt programmgemäß noch einmal eines seiner Gedichte zu lesen.
Auch die 1977 geborene Svealena Kutschke, die für ihre Geschichte Rückspiegel den zweiten Preis erhielt, war sichtlich überwältigt und kämpfte mit Tränen. Groß war der Kontrast zu den Siegerbildern vergangener Jahre, als selbstbewusste Literaturbetriebsgewächse auf der Bühne standen, die den perfekten Auftritt schon beherrschten, bevor er durch ein Werk wirklich legitimiert wäre. Kutschkes Geschichte wirkt zunächst sehr verrätselt und erfordert gleichsam selbst eine Lektüre im Rückspiegel. Denn erst dann wird klar, dass schon der erste Satz den Clou der Erzählung enthält: Wenn ich lange schweige, weiß Jan nicht mehr, wo ich bin. Dieser Jan, ein Pianist, ist erblindet bei einem Autounfall, den die Ich-Erzählerin verschuldet hat, als sie das Steuer wegen einer überfahrenen Katze allzu hastig herumriss. Nichts ist mehr, wie es war in der Beziehung dieses Paares.
Wie schon in den vergangenen Jahren bildet in vielen Beiträgen (die 22 Wettbewerbstexte sind nachzulesen in einer soeben erschienenen Anthologie des Allitera-Verlags) der Nahkosmos der Familie den Rahmen. Ansonsten imaginieren sich die Jungautoren gerne hinein in Außenseiter-Erfahrungen, indem sie Geschichten aus dem Hartz-IV-Milieu erzählen, sich in die seelische Verfassung alter, sterbender Menschen hineinphantasieren oder ihre Geschichten gleich auf einer Psychiatrie-Station spielen lassen, wie Johanna Wack, die für ihre lesenbühnentaugliche Borderliner-Satire den taz-Publikumspreis erhielt.
Sonia Petners Siegertext Zitronen ist irgendwo in einer vitaminarmen osteuropäischen Provinz angesiedelt. Die 1979 im polnischen Waldenburg geborene Autorin schildert aus der Perspektive eines Halbwüchsigen pittoresk kaputte Familienverhältnisse mit Hefekloß-Schwester, geruchsintensiv sterbender Großmutter und totem Vater. Dazu Hunger, Kälte und die Sehnsucht, entweder zum Teufel oder in die Ferne zu gehen, irgendwohin ans Meer, wo Schiffe abfahren und Seemänner gebraucht werden. Es ist eine in knappen, genauen Sätzen erzählte Geschichte, überlegt komponiert, mit sauber geführten Motiven und einiger Komik. Auch wenn man die schön-schaurigen Provinz-Eindrücke schon anderswo gelesen zu haben meint.
Was die Jury hier vor allem prämierte, ist ein Stilwillen, der womöglich ein Versprechen auf mehr ist. Solche Verheißungen haben sich in den letzten Jahren immer wieder erfüllt. Autoren wie Julia Franck, Tilman Rammstedt, Nico Bleutge, Terézia Mora oder Karen Duve wurden beim Open mike entdeckt. In den letzten Jahren ist der Wettbewerb allerdings kein Karrieregarant mehr, wie überhaupt die Chancen für Debüts nach der Goldgräberphase mit fabelhaften Vorschüssen wieder geringer geworden sind. So konnte man dieses Mal den Eindruck gewinnen, dass sich inzwischen mehr Veteranen des Wettbewerbs als Agenten und Talentscouts der Verlage unter das junge, schreibbegeisterte Publikum mischten.
Um so mehr möchte der wichtigste deutsche Nachwuchswettbewerb zur Publikumsveranstaltung werden. Unter der Sponsoren-Schirmherrschaft der Crespo-Foundation wurde das Programm erheblich erweitert. Ein vorgeschaltetes Kolloquium und vor allem eine anschließende Lesereise der Preisträger (in dieser Woche) sollen die Marke Open mike über den Literaturbetrieb hinaus bekannt machen.