Würdigung für Konrad Reich

"Ein charismatischer Geist-Beförderer"

1. Februar 2010
Redaktion Börsenblatt
Verleger Elmar Faber hat bei der Beerdigung des Buchhändlers und Verlegers Konrad Reich am 22. Januar in Rostock eine bewegende Trauerrede gehalten, die Reichs Leben treffend skizziert und die boersenblatt.net den Lesern nicht vorenthalten möchte:

»Wenn er gefragt würde, was er am höchsten stelle, ließ uns Thomas Mann in einem schönen Essay von 1952 einmal wissen, so würde er antworten, es sei die Vergänglichkeit. Sie sei nichtsTrauriges, sie sei vielmehr die Seele des Lebens, denn sie schaffe: Unsere Zeit.

Freilich, mit Blick auf die Ewigkeit, so wollen wir den Gedankenaufnehmen, ist es nur ein Augenblick, der uns Zeit bleibt, unsere dreiste Lebensarbeit zu verrichten, mit der wir möglichst spannend und leidenschaftlich uns und die Welt zu unterhalten und erträglich zu machen versuchen. Aber welch Glück ist es, sich mit Büchern darin einzurichten, in dieser kurzen Spanne Zeit, die wir unser Leben nennen.

Konrad Reich, diesem Mann voll strotzender Lebenskraft, von dem man selbst in trüben Stunden, in denen man über den Tod nachdenkt, nie angenommen hätte, daß er einmal sterben könnte, waren die Meriten schon in die Wiege gelegt, die ihn später zu dem charismatischen Verleger aufsteigen ließen, als der er Rostock, die Ostseemetropole, über Jahrzehnte hinweg literarisch weltläufig gemacht hat.

Der Sohn eines Magdeburger Buchhändlers, 1928 geboren, hat im Buchhandels- und Verlagsfach von der Pike auf gedient und eine Musterkarriere hingelegt, die ihn aus seiner Heimatstadt über Leipzig bis an die Spitze des gesamten Volksbuchhandels im Bezirk Rostock führt, wo er schon im jugendlichen Alter, nicht ganz gewöhnlich für seine Zeit, als knallharter Manager empfunden wird. Dort trifft er den ebenso originellen wie legendären Rostocker Hinstorff-Verleger Peter E. Erichson, der häufiger Kunde seines Buchhandels und aufmerksamer Beobachter von Konrads vielfältigen Aktivitäten ist. Dieser Mann, ein Urgestein, wie Rowohlt im nicht sehr fernen Hamburg, ein Vorbild an gelebter Toleranz, weist Konrad Reich in eine andere Richtung der literarischen Provinz. Er beschreibt ihm die feinsinnigen Glasperlenspiele der Verlegerkunst und lockt den besessenen Buchhändler ins Nachbarfach, dorthin, wo die wundersame Ware entsteht, die der Buchhändler nur reproduktiv noch ein zweites Mal erfinden kann. Nach einem externen Germanistikstudium an der Rostocker Universität, glaubt sich Konrad Reich im Sommer 1959 dem Angebot gewachsen, die Leitung des Hinstorff-Verlages zu übernehmen, der von einem bis dahin privat geführten Unternehmen nun ins nicht weniger schwierige Fach eines volkseigenen Verlages hinüberwechselt und sein schmales Programm in einen Rang erheben will, der von allem, was die literarische Welt hergibt, nur nicht von mecklenburgischem Provinzialismus bestimmt sein soll.

Es gehört zu den Sonntagslaunen des Schicksals, und zu dessen Sternstunden gehört es auch, wenn sich Lebensdaten, nackte Belege einer fortschreitenden Biographie, wie sie hier angesprochen werden, plötzlich in etwas Visionäres, in etwas Konfessionelles verwandeln. Aus einer langjährigen Freundschaft mit Konrad Reich weiß ich, das ihm das Verlegen von Büchern von Anfang an wie ein Wunder erschien – als würde man ein Reiskorn in die Erde legen, daraus sich in lockeren Rispen, aber tropischer Vielfalt, der Halm entfaltet, der, wenn man ihn nur gut wässerte, die halbe Menschheit sättigen konnte. Ausgreifend sind Konrad Reichs Gedankenbilder von der ersten Stunde an, wie er den Hinstorff Verlag führen will. Er nimmt die seit Jahrzehnten gewachsenen Verlagssegmente Regionalia und niederdeutsche Literatur traditionsbewusst auf, macht sich auf neue Spurensuche in beiden Bereichen, und vervollständigt dieses kleine Ensemble durch Themen der maritimen Kulturgeschichte, deren faszinierende Bewegungsspiele er als Erbe der ganzen Region begreift, die er bald seine Heimat nennen will. Was ihn aber in kurzer Zeit zum verlegerischen Solitär in der deutschen Verlagslandschaft macht, ist die Pflege der nordeuropäischen Literatur. Er stellt uns damit einen Koloß ins deutsche Literaturbewußtsein, wie es andernorts nur wenigen mit anderen Literaturen gelungen ist, Rowohlt mit den Amerikanern, Wagenbach in Berlin mit den Italienern und Aufbau mit den Lateinamerikanern. Dieser Vorgang, ist für die Verlags- und Buchhandelsgeschichte gar nicht hoch genug zu bewerten. Was er da in der Aufbruchstimmung der frühen DDR-Jahrzehnte aufzubauen beginnt, bekommt den Charakter der Einmaligkeit und war nur zu vollbringen, weil Literatur, weil Bücher nicht in erster Instanz als warenkundliche Drehzahlen, als Bestsellerbewegungen, als Mittel zur Kapitalaufstockung angesehen werden mussten. Jedenfalls wird Hinstorff ein Synonym für nordeuropäische Literatur, und wer sich in Deutschland, Ost und West, kundig machen will über Wiederentdecktes und neue Talente, schaut in dieser Zeit in die Programme des Rostocker Verlages.

Konrad Reich ist in seinen verlegerischen Mühen nicht allein. Er hat starke Gefährten. An seiner Seite steht Kurt Batt, der begnadete Cheflektor, sensible Kenner und Kritiker der zeitgenössischen Literaturszene, stehen intelligente Lektoren und Literaturvermittler, die Konrad Reichs Traum von einem Autorenverlag per excellence an Rostocks Küstengewässern zu vollenden bemüht sind, der von den führenden Verlagshäusern in Berlin und den mitteldeutschen Städten als gleichgewichtiger Konkurrent wahrgenommen werden kann. Der Meister der persönlichen Kontakte, als der Konrad Reich, nicht frei von einem Schuß Ironie, in Verlegerkreisen gern apostrophiert wird, versammelt in wenigen Jahren ein hochkarätiges Autorenensemble auf seiner Verlegerbühne. Erich Arendt, Jurek Becker, Fritz Rudolf Fries, Klaus Schlesinger, Rolf Schneider, Arnim Stolper, Uwe Saeger und andere klangvolle Autorennamen stehen in Hinstorffs Verlagsprogrammen. Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W." werden von Rostock aus zu einem Welterfolg und verunsichern im eigenen Land den Kodex uniformierter Menschenbilder. Langsam erhebt sich, wie ein erratischer Block, das Werk Franz Fühmanns aus den Tiefen seiner hintergründigen Phantasie und erschreckt auf fast unerklärliche Weise die Herrschenden. Konrad Reich, der Freund, der sanfte Moderator, gibt dem märkischen Eremiten ein Gefühl von Heimat. Ich habe mit Fühmann über dieses Gefühl von Aufgehobensein selbst mehrfach gesprochen, das Konrad ausstrahlen konnte. Das Markenzeichen der Literatur, die sich in seinem Verlag stationierte, hieß „Aufklärung", was heißen will, mündig werden gegen Selbst- und Fremdbeschränkung. Konrad Reich war Toleranz vorgelebt worden durch Freunde und Lehrer wie Peter E. Erichson und Ehm Welk, und nun zelebrierte er sie in eigener Statur, von einer eigenen Meinung geadelt. Er war erst fünfundvierzig, als er Hinstorff im deutschen Literaturbetrieb so aufgestellt hatte, wie er sich das dachte. Nach fünfzehn Jahren harter Arbeit hatte er, was die zeitgenössische Literatur betraf, den Rostocker Verlag an die Seite der großen Verlagshäuser wie Aufbau und Volk & Welt in Berlin geführt. Nun inaugurierte und bestimmte Hinstorff den intellektuellen Diskurs, den literarisch-politischen Streit im Lande mit. Man hatte seine Möglichkeiten, wenn man zivilcouragiert war, auch in der DDR, denn in manchem war sie, entgegen vieler Hiobsbotschaften ihrer historischen Nachbearbeiter auch ein freundliches Land. Hinstorff jedenfalls blühte, als Ganzes gesehen, während seiner DDR-Geschichte auf, wie nicht davor und nicht, noch nicht, danach. Freilich wurden die Regierenden in damaliger Zeit zunehmend dümmer als ihr Volk, eine böse Diagnose, die Konrad in deutscher Geschichte nicht nur auf eine Gesellschaftsform beschränkt sah. Sie drängten den Kapitän 1978 von der Steuerbrücke, nachdem er seiner schönen Literatur freie grenzüberschreitende Fahrt gesichert hatte und darauf bestand, daß auch Gedankenfreiheit keine Grenzen haben sollte. Die Ausläufer des Biermann-Debakels streiften die Verlegerexistenz, und es ließ sich fragen, waren wir, Konrad und seine aufrechten Kollegen, eigentlich Verleger in widriger Zeit? Gewiß, auch das, aber er selbst nahm die gelegentlichen Bedrohungen gelassen wahr und meinte, Anpassen und Widerstreben, dieses seltsame Antipodenpaar, das die große Literatur der letzten Jahrhunderte bedrückt hatte, sei andererseits auch so etwas wie das Ein- und Ausatmen der Zeit.

Als Konrad Reich sich in sein privates Refugium zurückzog, in die eigene literarisch-publizistische Wunderkammer, aus der erden „Himmelsbesen über weißen Hunden" u. a. interessante Texte hervorzauberte, war er längst geübt im Umgang mit der eigenen Feder. Er hatte Erzählungen für Kinder verfasst, Szenarien für Film und Fernsehen geschrieben, Ostseereportagen in Umlauf gebracht und die weithin wirkende Ehm-Welk-Biographie „Stationen eines Lebens" geschrieben, die mehrere Auflagen erlebte und 2008 von ihm in einem erneuerten und vervollständigten Text revitalisiert wurde. Er hatte häufig selbst als Autor vor einem leeren Blatt Papier gesessen und wusste, wie schwer es zu beschreiben war. Er hatte Sinn für Sprache und Stil und für das Spiel mit der Phantasie, was ihn als Verleger ehrfürchtig machte gegenüber jedem Manuskript. Er glaubte an die intime Macht des geschriebenen Wortes, und er wusste, wie verletzlich es war. Daraus entsprang, ich weiß es aus vielen Gesprächen, seine Herzenswärme, seine respektvolle Zurückhaltung und zugleich produktive Partnerschaft gegenüber den Autoren, manchmal freilich auch die Kargheit der eigenen Worte, wenn ihm das Wort des Anderen nicht treffend, nicht sinnstiftend genug erschien.

Konrad Reich war ein Perfektionist. Was die Bücherwelt in ihrem Universum versammelte, das sollte auch ihm alles gehören. Er war Autor, Herausgeber, Verleger, Buchhändler, in jedem Fach sensibel bis in den letzten Nerv und zugleich eine Blitz- und Donnergestalt, wenn es um Qualität, um Akkuratesse und – nicht zu vergessen – um Schönheit ging, um kulinarisches Büchermachen. Er war ein Geschmacksbildner, wie ihn sich das 19. Jahrhundert vorgestellt hatte, nur von höchst modernem Zuschnitt. Die Personalunion, die er in sich herstellte, ließ die störenden Beschäftigungen nicht aus, die dem Geist-Beförderer mitunter die Zeit raubten, die beschwerlichen Wege übers Land, um die Literatur an die Frau und den Mann zu bringen, in Vorträgen, Lesungen, Debatten, kleinen und großen Literaturfesten. Ich habe ihn einmal den literarischen Entertainer des Nordens genannt, und das im Wortsinn auch so gemeint, er war ein niveauvoller Unterhalter, ein zärtlicher Hin-und-Herwender der schönsten Sache der Welt, der Literatur und Kunst und ihrer Liaison im Buch. Mit ganzer Liebe hat er sich eingebracht, um Buch und Publikum zusammen zu bringen, aber freilich habe ich ihn zuletzt auch in Situationen erlebt, wo er mit staunenden Augen auf eine Gesellschaft herunterblickte, die statt der Literatur, wegen der sie scheinbar zusammengekommen war, lieber ihre Segelboote beschrieb und statt eines Buches lieber das Sektglas wie eine Trophäe hochhielt.

Einmal, als er zurückkehrte aus den fremden Realitäten, stieß er das böse Wort: Banausen hervor. Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. Wie zornig musste in dieser Stunde der heitere Charakter, der noble Weltbürger gewesen sein, der nach der Wende den Neuanfang noch einmal gewagt hatte, weil er meinte, dies den neuen Verhältnissen, der neuen Freiheit und der hanseatischen Bildungsgesellschaft schuldig zu sein. Aber das Wetterleuchten im Kosmos der Bücherwelt, die Wandlungen im Buchhandel, die Uniformierung des Geschmacks, schienen ihm bedenkliche Symptome der Entfremdung von einer literaturbewußten Gesellschaft zu werden. Und was hatte er als Buchhandelsprinzipal im Fünfgiebelhaus nicht alles versucht und geleistet? Er hatte den Ort zum launigen Treffpunkt belesener Bruderschaften gemacht und diesen immer neue Mitglieder hinzugewonnen.

Im neu gegründeten Konrad Reich Verlag, später in der Edition Konrad Reich bei Hinstorff, verdienstvoll auch von Hinstorff selber, hat der linke Ehrenmann mit den vielen bürgerlichen Tugenden das Kapital aus den Münzen geschlagen, die er lange schon vorgeprägt hatte. Ich erinnere an Plenzdorfs sarkastische Dichtungen „Ich sehn' mich so nach Unterdrückung", an die noch weiter kritisch aufzuarbeitende Fühmann-Biographie von Gunnar Decker, an Uwe Saegers Roman „Die gehäutete Zeit", an das große Buch über die Usedomer Malerei, an Ernst Barlachs „Landschaften seines Lebens", an Hartwig Hamers wunderbare Landschaftsbilder, um wenigstens annähernd den breitgefächerten Interessenkreis und den intellektuellen Impetus anzudeuten, die der ewig jung erscheinende Verleger auszuschreiten versuchte, wozu er ein anspruchsvolles Publikum brauchte, allerorten.

Mein Freund Konrad Reich war, bei allen Vorzügen, keine Übernatur, er war ein Mensch wie wir alle, sanft und verletzlich, ungeduldig und aufbrausend, glücklich und zerknirscht, wie es die Umstände hergaben. Als ich Tage vor Weihnachten mit ihm telephonierte, da plauderte er mit mir aufgeräumt über seine nächsten Vorhaben, bat mich, ihm ein wenig behilflich zu sein, einen Illustrator für Ehm Welks „Die Heiden von Kummerow" zu finden, beschrieb die Aussicht auf seine Biographie und beschwor mich, weiterzumachen mit meinem Leipziger Programm, gegen die Claqueure des digitalen Zeitalters. Die eigentliche Grenzzone zwischen Leben und Tod schien noch nicht nahe an ihn herangerückt zu sein. Der schaffende Teil seiner Existenz war noch nicht zur Ruhe gekommen, und Heiterkeit und Zuversicht, die seine Lebensmuster waren, schienen noch immer die schöne, noble Häuslichkeit zu bewohnen, die Lydia und er sich im Käptn-Pött-Weg eingerichtet hatten. Ohne diese wunderbare Frau, ohne seine Kinder und Enkel, ohne die Einbettung in seine Familie wäre dieses bewegte Leben wahrscheinlich gar nicht möglich gewesen.

Wir wollen Konrad Reich für den Zauber seiner Persönlichkeit danken, für seine Jungenhaftigkeit noch in der Weisheit des Alters, für seine Nonchalance neben seinem Gefühl für Zeremonielles, für den Verstand mit Herz, für seine Aufgeschlossenheit gegenüber jedem Lebensgenuß neben der Gezügeltheit und Disziplin seines Charakters, für seinen Sinn für Tradition und seine Zukunftsphantasie. Wir werden ihn vermissen, den königlichen Kaufmann, den Taktiker neben dem gewieften Strategen, den Mann mit Sinn für das Detail, der immer das Ganze im Auge behielt, den aufmerksamen Zuhörer und den fesselnden Erzähler, der viele unterhalten konnte.

„Lob der Vergänglichkeit", so hatte Thomas Mann seinen Essay überschrieben und über die „große Gabe der Zeit" nachgedacht, mit deren Hilfe wir dem Vergänglichen das Unvergängliche abzuringen versuchen. Konrad Reich hat durch sein Leben, das er bis zum Rande ausgeschöpft hat, und durch sein Werk zur Glaubwürdigkeit dieses Versuchs, also zu unser aller Selbstvervollkommnung beigetragen. Wir wollen ihm dankbar sein.«