So forderte er also mehr Mut von der Jury bei der Auswahl der Preisträger, vor allem aber, dass sie endlich seine Vorschläge in Betracht ziehe. Einmal ist das geschehen: Yehudi Menuhin erhielt 1979 die Auszeichnung. "Aber ich habe drei Vorschläge gemacht." Das Internationale Schulbuchinstitut Braunschweig und Daniel Barenboim sollten endlich bedacht werden. Wenn Grosser bei seinem Thema, besser seinen Themen war, ließ er sich kaum bremsen – zu groß die Lust am Gespräch und am Widerspruch. Er lobte Martin Walsers Rede von 1998 und kritisierte jene von Saul Friedländer. Dessen sehr persönliche Rekapitulation der eigenen Familiengeschichte, die zugleich eine Verfolgtengeschichte ist, sei zu wenig. "Erinnerung erkenne ich an, wenn sie schöpferisch ist."
Der Kritik der Reden schloss Grosser eine der Redner an: "Was ist sein Beitrag für den Frieden?" Auf diese Frage gäbe es nicht immer eine überzeugende Antwort. Die Entscheidung des vergangenen Jahres für Claudio Magris etwa bleibe ihm, der Magris als Mittler und Autor schätze, unverständlich.
Mit jungenhaftem Lächeln saß Grosser neben Casimir, mit derselben freudigen Wachheit im Gesicht wie schon 1975 in der Paulskirche - damals an der Seite des ebenfalls frohgemuten Bundespräsidenten Scheel (das Bild ist Teil der großartigen Ausstellung, die Zuhörer und Redner an diesem Abend in der Stadtbibliothek einrahmte). Lächelte also und sprach, gefragt nach seiner frühen, häufig zitierten Definition von der "freudlosen Republik", über deutschen Ernst und das "Freudeverbot nach Hitler". Andererseits: "Die Intensität des Lächelns sagt nichts. Niemand lächelt besser als Westerwelle."
War das der Übergang zum Thema Talkshow? Grosser und Casimir fanden von einem zum nächsten – ungezwungen, selbstverständlich. Sprachen also über die Friedenspreisverleihung in der Paulskirche als in ihrer Ernsthaftigkeit, Feierlichkeit und Offenheit unzeitgemäßen Veranstaltung und einzigartigem Kontrast zu fast allem, was sonst Öffentlichkeit sucht und übers Fernsehen transportiert wird.
Die Zuschauer folgten dem immer kurzweiligen Gespräch gespannt, manchmal amüsiert. Denn vorne saß ein Redner, der, wie er selbst seine Wirkung erklärte, nicht "auf Soziologisch, nicht auf Englisch, sondern auf Deutsch" sprach. Und der wohl gern bis zur Abfahrt des Zuges weitergeplaudert hätte. "Ich wundere mich, wollen Sie nicht noch über Sozialpolitik reden?"
Da Grosser bestimmte, geschah auch dies. Ob die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich zu sozialen Unruhen führen werde, wollte er weder prognostizieren, noch ausschließen. "Mein Job als Politologe ist es nicht, Vorhersagen zu treffen, sondern im Nachhinein zu erklären, warum etwas so kommen musste, wie es geschah."
Grosser ist vermutlich gerade in den Zug gestiegen – zurück nach Paris. Dort, auch das erzählte er, erwartet ihn tagesaktuelle Lektüre: "Ich bekomme jeden Morgen um 7 Uhr die Frankfurter Allgemeine und die Süddeutsche. Es sind die beiden einzigen deutschen Tageszeitungen, die ich lese." Man darf davon ausgehen, dass er es sehr genau und ausführlich tut.
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