Übersetzertreffen in Berlin

Dreimal Nobel

15. März 2010
Redaktion Börsenblatt
Mal eben in zwanzig Minuten den Stand der deutschen Gegenwartsliteratur auf den Punkt zu bringen – das ist angesichts der mehr als 80 000 jährlichen Neuerscheinungen wohl selbst für einen gestandenen Experten wie Burkhard Müller keine leichte Aufgabe.

Der Literaturkritiker der Süddeutschen Zeitung hielt den Eröffnungsvortrag zum Internationalen Treffen der Übersetzer deutscher Literatur im Literarischen Colloquium Berlin (LCB), das diesmal nach einem Roman von Katja Lange-Müller, "Böse Schafe", benannt ist.

Es ist nach 2007 das zweite Treffen dieser Art, zu dem das LCB zusammen mit der Robert-Bosch-Stiftung und dem Goethe Institut einlud: Bei Workshops, Vorträgen und der gemeinsamen Fahrt zur Leipziger Buchmesse werden sich dabei im Lauf dieser Woche sechzig Teilnehmer aus 36 Ländern über ihre Erfahrungen bei der Übertragung deutscher Literatur ins Spanische, Portugiesische, Englische, Chinesische, Arabische, Armenische, Persische und viele andere Sprachen austauschen.

Müllers rhetorische Herausforderung bestand nun darin, den Gästen ein knappes Gesamtbild deutscher Gegenwartsliteratur zu vermitteln und sie auf das Programm einzustimmen: Wovon reden wir, wenn wir von der Übersetzung deutscher Literatur in insgesamt 32 andere Sprachen reden? Diese erwünschte Übersicht über das Unübersichtliche lieferte er in Form einer witzigen, aussagekräftigen Typologie, in der er die drei deutsprachigen Nobelpreisträger der letzten zehn Jahre – also Günter Grass, Elfriede Jelinek und Herta Müller – jeweils als exemplarische Vertreter dreier Schriftstellertypen darstellte.

Typ 1, der literarische Repräsentant à la Thomas Mann, wird innerhalb dieser hübschen Schematisierung von Günter Grass vertreten. "Diese Großschriftsteller haben eins gemeinsam," erläuterte Müller: "Sie sind alt." Sie seien aber auch charakteristisch für Gesellschaften im Umbruch – so sei Grass durch den Nobelpreis vor allem für seine Verdienste während des gesellschaftlichen Umbaus in den Sechzigern geehrt worden.

Typ 2, vertreten durch den "österreichischen Sonderfall" Elfriede Jelinek, skizzierte Müller dann als jene Daseinsform des Literaten, die den Stolz auf ihre Heimat in Form litaneihafter Beschimpfungen ausdrücke – ein "Patriotismus als Schmähung", wie er auch für Thomas Bernhard kennzeichnend gewesen sei.

Zu Typ 3 zählt Müller jene scheinbar randständigen Schriftsteller, die sich unversehens zu Galionsfiguren der neuen Mitte erhoben sehen. Diese sind, wie die Rumäniendeutsche Herta Müller, oft sowohl im Westen als auch im Osten heimisch – Autoren wie Wolfgang Hilbig, Volker Braun oder Ingo Schulze.

Auch dank der anschließenden Diskussion mit den anwesenden Übersetzern, bei der Burkhard Müller seine zwangsläufig vereinfachende Typologie ausschmückte und ergänzte, ergab sich ein erstaunlich rundes Bild der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur. Da ging es um Autoren mit Migrationshintergrund, um die Dominanz des Romans über andere Gattungen oder um autobiographische Tendenzen in der Prosa, die zum Beispiel beim Blick auf die Shortlist zum Preis der Leipziger Buchmesse offensichtlich werden.

Alles in allem dauerte die ganze Veranstaltung dann doch nicht bloß zwanzig Minuten, sondern immerhin knapp zwei Stunden. Einer so kenntnisreichen, von klugen Fragen und Wortmeldungen lebhaft bereicherten Einführung in die deutsche Gegenwartsliteratur hätte man aber auch gut und gern noch einmal so lange lauschen können.

Link zur Teilnehmerliste mit den Namen aller anwesenden Übersetzer.