Dankesrede zum Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2010

Die Fenster der Poesie

18. März 2010
Redaktion Börsenblatt
Im Berliner Zimmer wurde heute der Kerr-Preis vergeben. Ausgezeichnet wurde Dorothea von Törne, die sich hauptsächlich mit Lyrik befasst – eine Aufgabe, die von allen Rednern der Preisverleihung besonders geschätzt wurde. boersenblatt.net dokumentiert ihre Dankesrede:

"Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Literaturfreunde, liebe Lyrikleser!

Was ist das: die Poesie, die Lyrik, das Gedicht? Welchen Wert hat es und wie gehen wir damit um? Der Literaturkritiker, der sich mit Gedichten befasst, bewegt sich heute auf einem Bolzplatz der Meinungen, auf dem sein Gegenstand – je nach dem Standort des Betrachters – als Gipfel der Sprachkunst leuchtet oder als Spielball durchgeknallter Eigenbrötler über seelische Schlaglöcher trudelt.

Zwischen der Auffassung vom Gedicht als ästhetischem Wunderwerk einerseits und lächerlichem Gefühlserguss andererseits gibt es unzählige Definitionen. Bedeutende Praktiker und Theoretiker haben sich darüber den Kopf zerbrochen. Mir scheinen die Worte der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson am treffendsten zu sein: "Ich wohne in der Möglichkeit- / Und nicht im Prosahaus / An Fenstern reich und heller - /mit Türen ein und aus“ schrieb sie im Jahre 1862. Die Vorzüge der Lyrik, im Original "A fairer House than Prose- / More numerous of Windows", die Emily Dickinson vor 148 Jahren in Verse fasste, und Gunhild Kübler für den Hanser Verlag ins Deutsche übertrug, gelten heute mehr denn je und anders als die Dichterin auch nur ahnen konnte.

Das Haus mit den offenen Fenstern und Türen, das Haus der Möglichkeiten, das jedermann auf vielerlei Wegen betreten und verlassen kann, wann immer er will, ist an keine Zeit und keinen Ort gebunden. Der Ort der Dichter ist die Ortlosigkeit. Das Schmetterlingstal der Dänin Inger Christensen ist nirgends und überall, auch in den Windows der virtuellen Welt – aber davon später. Lyrik ist die Gattung der Möglichkeiten und die älteste Kunst des Menschen überhaupt. Mit ihren Rhythmen und Klängen, den offenen, mehrdeutigen Worten, Bildern und Bezüglichkeiten, dem immer wieder neuen und anderen Rückgriff auf jahrhundertealte Formen und dem Spiel von Kontinuität und Regelbruch ist sie die Königsdisziplin. Sie handelt nicht von Welten, wie die Prosa, sie erschafft Welten, die durchlässig sind für das Denken und die Sinne. Was sie von der realen Welt an Abbildern und Spiegelungen aufnimmt, ordnet sie zu Mustern und Strukturen, die es nur einmal gibt: im jeweiligen Gedicht. Doch anders als zu Emily Dickinsons Zeiten, müssen sich Dichter spätestens seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in einem literarischen Klima behaupten, das sie zur Marktmarginalie schrumpfen lässt.

Markt und Marginalie

Hans Magnus Enzensbergers Schreckensmeldung vom lyrischen Betrieb: es gäbe in jeder Sprachgemeinschaft nur 1354 Leser für anspruchsvoller Lyrik, hat sich als die "Enzensbergersche Konstante", als bitterwahres Bonmot den Köpfen eingebrannt.

Bedeutende Vertreter der poetischen Zunft waren längst in die Offensive gegangen: "Lyrik ist die Essenz der Kulturen der Welt" verkündete Joseph Brodsky. Er war poet laureate der USA, dozierte an der Universität Michigan und hatte eine Professur in Massachusetts inne. In seiner Essaysammlung "On Grief and Reason", in der Ansprache in der Library of Congress in Washington, hatte er die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen für die Verbreitung von Poesie vor Augen. Ausgehend vom geistigen Klima für Lyrik mit seiner kümmerlichen Rezeption von Poesie, stellte er eine These auf, die Marktmechanismen auf den Kopf zu stellen scheint: Auf kulturellem Gebiet schaffe nicht die Nachfrage das Angebot, sondern umgekehrt: "Man liest Dante, weil er die "Göttliche Komödie" geschrieben hat, nicht weil man einen Bedarf nach ihm empfunden hätte…" Um die skandalösen Verhältnisse abzuschaffen, schmetterte er dem verdutzten Publikum ein ganzes Bündel von Vorschlägen entgegen – vom Gedichtband neben der Bibel im Hotelzimmer bis zur Steuerermäßigung für Lyrikleser. Dieser Literaturnobelpreisträger war ein Schelm und Utopist und ein Magier auf verlorener Bühne.

Lyrik als Licht

Ein anderer Literaturnobelpreisträger und Lyriker: der Ire Seamus Heaney lehrte in seinen "Oxforder Vorlesungen" den Glauben an die Macht der Poesie. Heaneys "Verteidigung der Poesie", wirft sich mit Vehemenz auf das, was zwischen Poesie und Leser geschieht: "Das Gedicht schenkt einen Schluck von klarem Wasser transformierter Erkenntnis und erfüllt den Leser mit einem momentanen Gefühl der Freiheit und des Heilseins". Das muss man nachhallen lassen.

Laut Heaney ist jene "imaginative Transformation", die er Dichtung nennt, "die beste Möglichkeit, dieses Leben wirklich zu verstehen." Allein die Poesie "verleihe der menschlichen Existenz wahres Lebendigsein" und führe in "einen Zustand tagheller Richtigkeit." Der Dichter als Lebensretter und Arzt, der Leser als Patient, der bei Einnahme des Medikaments Poesie die Grenze zwischen deformierendem Alltag und korrigierender Imagination überschreitet, dabei schaudernd in eine Gegenwirklichkeit eintritt? Das hieße Poesie wie eine Droge verwenden.
Der Literaturkritiker ist gut beraten, sich an den englischen Poeten und Dozenten Michael Hamburger zu halten, der 1969 in seiner Essaysammlung "The Truth of Poetry" die Bedeutung der Poesie anhand exemplarischer Betrachtung einzelner Dichter und Werke auf der Spur war. In Porträts und Werkstudien betrieb er akribische Analysen und spürte weltweit Querverbinden auf. Ich bekenne, eine Anhängerin seiner MEthode zu sein, obwohl ich auf einem bescheideneren Terrain – dem der Zeitungskritik arbeite.

Poesie und Kritik

Aus den im Lauf von Jahrzehnten gesammelten Früchten des Lesevergnügens, den eigenen Studien, ließen sich ganze Essays entwickeln, aber in den Printmedien schrumpft der Platz für Literaturkritik immer mehr – und der für Lyrik-Rezensionen erst recht. Wo einst die Lyrik unter die Lupe genommen werden konnte, rekelt sich jetzt die Modebranche. In der Zeitungskrise versucht man, das Anzeigenaufkommen zu steigern, damit die Gehälter der Redakteure bezahlt werden können. Und Lyrik kommt immer zuletzt. Nicht so bei der "Literarischen Welt", in der – neben dem "Buch der Woche" – regelmäßig eine Lyrikkolumne erscheinen kann, die den literarischen Entwicklungen im eigenen Lande nachspürt und darüber hinaus die Fenster zur ganzen Welt weit öffnet. Für diese Chance, der Poesie und ihren spannenden Prozessen einen öffentlichen Raum zu bieten, möchte ich der Zeitung "Die Welt" an dieser Stelle ausdrücklich danken. Doch auch in kleinen Zeitungen wie der "Märkischen Allgemeinen Zeitung" in Potsdam gibt es noch Redakteure, die zu den sprichwörtlichen sieben Aufrechten gehören, die das literarische Fähnlein hochhalten. Wo steht der Literaturkritiker im kulturellen Betrieb? Erfüllt er eine richter- oder priesterähnliche Funktion als Verwalter einer angenommenen Kunstwahrheit? Wer als Kritiker von einem Dogma ausgeht, von einer festen Vorstellung, wie Literatur gefälligst zu sein hat, hat als Lyrik-Rezensent schon verloren. Was natürlich nicht heißt, dass er den Philologen in sich verleugnen sollte oder das Wissen um die Regeln und die Literaturgeschichte dahinter. Aber bei der Lektüre kommt es darauf an, offen zu sein für alles, was der Poet mit der Sprache macht. Nur mit Unvoreingenommenheit und Neugier kommt er nicht nur den – meist unter der Oberfläche vagabundierenden Themen und dem gesellschaftlichen Gehalt auf die Spur, sondern auch den Feinheiten der Regelbrüche, dem Sinn oder Unsinn von Neuerungen in Wortschatz und Grammatik, der Phantasie in den Wortschöpfungen.

Lesen und Deuten

Der Kritiker ist ja auch nur ein Leser – nach dem Lektor vielleicht der erste –, der eine Art zu lesen anbietet. Mit seiner Lesart begibt er sich in den Dialog mit dem Gedicht selbst, mit dem Autor dahinter, mit all den Schriftstellern, auf deren Texte das Gedicht bewusst oder unbewusst antwortet, und nicht zuletzt mit anderen Lesern. "Korrekte Auskünfte", die an dieser Stelle schon verlangt wurden, kann es nicht geben. Wir befinden uns schließlich nicht am Ticketschalter eines Bahn- oder Flugunternehmens. Fundamentalisten unter den Literaturkritikern werden schnell zu Vorlagen für Karikaturisten und Kabarettisten. Nicht minder komisch als Dichter, die sich in der Rolle des Gurus oder Propheten wähnen, sind Literaturkritiker mit pädagogischen Ambitionen. Das führt zu Wutausbrüchen, Buchzerschmetterungen, psychopathologischen Befindlichkeiten. Respekt gegenüber dem Autor und seinem Werk ist dem Literaturkritiker angemessen. Die Rezension kann doch bestenfalls nur eine Annäherung an das Werk sein. Was zwischen den Zeilen abläuft, in den Metaphern mitschwingt oder sich bei unvermuteten Zeilenbrüchen ereignet, lässt sich niemals ganz in Normalsprache übersetzen. Die aber kann ruhig zupackend und pointiert sein wie die des Alfred Kerr. Distanz zum Autor halte ich für das oberste Gebot. So kommt es, das ich von den hunderten (oder gar tausenden?) Gedichtbänden, die ich in Jahrzehnten gelesen, bis ins Detail analysiert und kritisiert habe, kaum einen ihrer Verfasser persönlich kenne. Das hat den Vorteil der vollkommenen Unabhängigkeit im Urteil.

Blog und Sphäre

Zurück zu den Windows und mit ihnen zu den neuen Medien. Thierry Chervel, Mitbegründer des kulturellen Internetportals "perlentaucher.de" hat am 15. März provokante Behauptungen über das Verschwinden des traditionellen Buches und das Ende der Kritik im Journalismus aufgestellt. Kann das Blog mit seinen spontanen Plattheiten wirklich die Zeitungskritik ersetzen? Braucht es für eine gute Kritik nicht den Spezialisten für Theater, bildende Kunst, Literatur? Die "extrem individualistische und extrem kollektive Art des Schreibens", die Chervel im Blog entdeckt zu haben meint, ist doch keine Erfindung des Internet. Renga und Renshi, ursprünglich aus Indien kommende Kettengedichte, die verstärkt in den letzten beiden Jahrzehnten über den Erdball vagabundieren, laufen jeder dünnen Blogosphäre den Rang ab. Ein Dialog ist Literatur immer, auch ohne Kommentarangebote auf einen Klick oder Hyperlinks. Was Kevin Kelly in seinem New-York-Times-Essay "Scan this book" über die Digitalisierung sagte: wie Prozesse in Gang gesetzt werden, Bücher Synapsen entwickeln, durch Links, Tags und Kommentare physische Verbindungen untereinander herstellen, ähnelt mancher Schreibweise jüngerer Lyriker. Auch bei ihnen ist der "unendliche Dialog nicht mehr nur Metapher". Junge machen sich die neuen Formen im Netz als ästhetische Impulse zunutze. Man lese nach in den jüngsten Büchern von Christian Schloyer und Steffen Popp, bei Björn Kuhligk (Berlin Verlag), Dieter M. Gräf (Frankfurter Verlagsanstalt), Daniela Danz (Wallstein Verlag), bei den Autoren des Verlages Das Wunderhorn, bei Schöffling&Co, bei der Edition Rugerup, bei luxbooks und kookbooks und vielen anderen. Dass das herkömmliche, feste Buch sich auflöst im "neuen Aggregatzustand der Zeichen wie Eisschollen im Klimawandel (Jürgen Neffe)" bleibt – hoffentlich – eine Fata Morgana. Nicht die Zeichen, die Sprache macht den Menschen zum Menschen. Gute Gedichte überzeugen durch ihre künstlerische Einzigartigkeit, durch den Wechsel der Perspektive auf ethische Werte über Länder und Zeiten hinweg, durch die Relation von Inhalt und Form, die nach allen Seiten hin offen sein kann – wie die "Windows" der Emily Dickinson.