Lesen im Untergrund

19. März 2010
Redaktion Börsenblatt
Vor der Moritzbastei wurde schon mal die Grillsaison eingeläutet, im Kellergewölbe wartete ein leicht mißmutiger Clemens Meyer auf seinen Auftritt. Was sonst noch geschah bei der Langen Leipziger Lesenacht lesen Sie hier:

Vor dem Eingang wurde gegrillt. Wer am Feuer vorbei in die Kellergewölbe der Moritzbastei wollte, nahm somit eine Duftnote von scharf gebratenen Steaks mit. Hitze auch drinnen, die jungen Wilden des Literaturbetriebs kamen offensichtlich alle. Am engsten wurde es im Oberkeller, im Nadelöhr des Durchgangs zu Clemens Meyer und Ulrike Almut Sandig.

Clemens Meyer saß mit missmutigem Gesicht hinter dem Lesetisch, wartete auf die anderen, die noch auf die Bühne kommen sollten, und musste solange das Blitzlichtgewitter alleine aushalten. Als Ulrike Almut Sandig ihre Geschichte aus "Flamingos" las, in der es um junge und alte Mädchen, um einen fiesen Kerl, um Eis und den blassen verschwindenden Mond ging, wurde es still. Leise und mit zarter Stimme gelesen, aber unerbittlich deutlich, wenn Sandig für den groben Johnny spricht - mit einer fragenden Klangschleife am Ende des Satzes, an der wie an einem Garderobenhaken eine schwere Provokation hängt.

Danach Schichtwechsel auf den raren Sitzen und Stehplätzen, ein bisschen Geschiebe, bis Clemens Meyer nach umständlicher Vorrede eine Erzählung aus "Gewalten" las. Eine wüste Geschichte eines jungen Menschen, so eines Schwarzmantelträger mit großer Tasche, die man seit Winnenden mit gemischten Gefühlen ansieht. Meyer stürzt sich in der Erzählung hinein in eine Persönlichkeit, deren Gewaltpotenzial sich im Computerspiel auslebt und zum Glück noch vor dem größten anzunehmenden Amoklauf ausgebremst wird. Diesmal zumindest. Meyer spielt ein wildes literarisches Spiel mit Täuschungen und Möglichkeiten, und trieb die grausamen Wahrheiten mit der Stimme eines alten, erfahrenen Geschichtenerzählers ins Publikum.