Friedenspreis

Dokumentation: Ein Preis für den Frieden der Welt

1. April 2010
Redaktion Börsenblatt
Literaturwissenschaftler Wolfgang Frühwald über 60 Jahre Friedenspreis - und die Wander-Ausstellung "Widerreden", die bis zum 10. April in der Berliner Staatsbibliothek Station macht.

Boersenblatt.net dokumentiert einen Vortrag, den der Ehrenpräsident der Alexander von Humboldt-Stiftung am Dienstag in Berlin begleitend zur Ausstellung gehalten hat: 

In der Mitte der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts sagte der Neuzeit-Historiker Franz Schnabel in einer seiner Vorlesungen einen bemerkenswerten Satz, den manche Historiker bis heute wiederholen. Er hat sich damals meiner Erinnerung nachhaltig eingeprägt. „Die Geschichte lehrt", so verkündete er lapidar, „dass auf eine jeweils längere Friedenszeit ein umso schrecklicherer Krieg folgt."

Franz Schnabel hatte damals die vierzigjährige Friedenszeit im Blick, die Europa nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 geschenkt war, einen Friedenszeitraum, der in der neueren Geschichte Europas bis dahin nicht mehr erreicht worden war. Mit meinen 20 Jahren schien mir dieses „Die Geschichte lehrt ...“ dem eigenen Lebensgefühl nicht angemessen. Der siebzigjährige Professor, so haben wir Studenten damals zueinander gesagt, hat leicht reden, er hat sein Leben gelebt. Wir aber haben es vor uns und sollen nun, wie „die Geschichte lehrt“, einem noch scheußlicheren Krieg entgegengehen als es der war, der soeben hinter uns lag? Darf Geschichte, fragte ich mich, den Horizont der Zukunft so verdunkeln?

Die Menschen meiner Generation (geboren in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts) waren 1945 mit knapper Not dem Rachen des Todes entkommen. Wir mussten nicht mehr Soldaten sein, aber wir hatten die Schrecken der Bombennächte und der brennenden Städte noch erlebt. Den Hunger und die Mangelkrankheiten hatten wir überstanden und viele von uns hatten Eltern, Geschwister, die Heimat, Hab und Gut verloren. Das Lebensgefühl der uns vorangegangenen Generation schien uns in Bertolt Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ formuliert:

„Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.“

Doch unser Lebensgefühl, eben das der „Nachgeborenen“, hat erst einer aus unserer Generation ausgedrückt: Horst Bienek, der 1930 geborene und 1990 zu früh in München gestorbene Lyriker und Romancier, der, von seinem Lehrer Brecht enttäuscht und in der Not der Zwangsarbeit im Stich gelassen, doch niemals aufhören konnte, in dessen Ton zu dichten. Er hat dem Mortalismus der Zeit energisch widersprochen:

„und Leben bedeutet nicht
        tausend Möglichkeiten zu sterben
sondern da zu sein“.

Den Krieg also glaubten wir zu kennen, doch der Frieden musste erst hergestellt werden – mühsam, täglich, zuerst in unserem eigenen Leben und unserer Umgebung, auch im Streit und im Erstaunen über jene, für die (nach Konrad Adenauers berüchtigtem Wort von 1957) Atomwaffen nichts anderes waren „als die Weiterentwicklung der Artillerie“. Gegenüber dem Phrasenarsenal der Rechtfertigung von Massenvernichtung, wie es seit dem Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki in der westlichen Welt grassierte, gab es durchaus instinktive Abwehr.

Die uns empfohlenen Schutzmaßnahmen gegen die radioaktive Strahlung atomarer Waffen, die Schultasche über dem Kopf oder die Deckung unter den Schulbänken, haben nicht einmal die naivsten Schüler ernstgenommen. Jan Philipp Reemtsma hat in diesem Phrasenarsenal ein Element der Lust auf die Apokalypse entdeckt. „Es ist ja nicht nur Verniedlichung“, sagte er zur Eröffnung der Marbacher Ausstellung „Strahlungen“ (2008), „sondern eine sonderbare Vermischung von Zerstörungskraft und erotischen Phantasien, dass man einen Badeanzug ausgerechnet nach dem pazifischen Atoll benannte, über dem man die erste Wasserstoffbombe gezündet hatte, und dass in den 50ern besonders beeindruckende Oberweiten ‚Atombusen’ hießen.“

Die Friedenssehnsucht dieser Jahre war zerbrechlich, sie war anfällig für Ideologie und Torheit. Trotzdem waren wir als junge Menschen zuversichtlich, dass unsere Friedensperiode länger dauern werde als die der Eltern und der Großeltern, und deshalb erschraken wir vor dem dogmatischen „Die Geschichte lehrt...“.

Gegenüber der Lust am Untergang, gegenüber den strategischen Planspielen für den sogenannten Erstschlag, der die Verwüstung großer Teile der Welt unterstellte, schien der Frieden unter den Völkern einer wachsenden Zahl von Menschen jeder Anstrengung wert. Aus diesem Grund vielleicht wurde der Koreakrieg, der im Juni 1950 begann und der erste der blutigen Stellvertreterkriege eines Dritten Weltkriegs war, in Berichterstattung und Politik als ein lokaler Konflikt behandelt, obwohl in diesem Krieg erstmals die Bundesgenossen der Anti-Hitler-Koalition, die USA, zusammen mit UNO-Truppen auf der Seite des Südens, und China mit der Sowjetunion, als Unterstützer des Nordens, einander gegenübertraten.

Knapp drei Wochen vor dem Beginn des Koreakrieges, in der unheilschwangeren Atmosphäre des Frühjahrs 1950, wurde in Hamburg auf Initiative des Schriftstellers Hans Schwarz, des Verlagsbuchhändlers Friedrich Wittig (und einiger weniger anderer Verleger, fünfzehn waren es insgesamt) ein „Friedenspreis Deutscher Verleger“ gestiftet, mit dem von nun an jährlich eine Person ausgezeichnet werden sollte, die für Frieden und Verständigung unter den Völkern wirkt.

In der Person von Max Tau, dem 1938 aus Deutschland nach Norwegen und Schweden geflüchteten Lektor und Schriftsteller, wurde für die erste Preisverleihung ein zwar würdiger, aber wenig bekannter Preisträger gefunden. Die Preisverleihung fand in kleinem, eher privatem Rahmen statt. Der unmittelbar einsetzende Nachhall dieser Initiative aber war zumal in den skandinavischen Ländern und in Deutschland gewaltig, lauter als der Anlass. Schon im Jahr darauf (1951), als der Preis an den weltweit bekanntesten Friedensaktivisten, an den Theologen und Arzt Albert Schweitzer, verliehen wurde, war aus dem „Friedenspreis Deutscher Verleger“ der „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ geworden.

Dem Aufruf zur Stiftung eines solchen Preises in der Nummer 60 des Börsenblatts (1951) folgte eine so große Anzahl von Verlegern und Sortimentsbuchhändlern (mit Spendensummen zwischen einer symbolischen DM und 1000.- DM), dass der Preis von nun an zum Identifikations-Zeichen der gesamten deutschen Buchbranche wurde.

Bundespräsident Theodor Heuss trat 1951 als Laudator ans Pult. Schon dies zeigte die Bedeutung, die dem Preis nun zuwuchs, doch auch der Ort, an dem dies geschah, war repräsentativ. Denn seither wird der Friedenspreis in der Regel in der Frankfurter Paulskirche verliehen, einem symbolträchtigen Ort deutscher Demokratie seit 1848, und das Datum der Verleihung, der letzte Sonntag der Frankfurter Buchmesse, stärkt die Identifikation der deutschen Buchhändler mit „ihrem“ Preis noch einmal zusätzlich.

Seit sechs Jahrzehnten wird der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels nun ohne Unterbrechung vergeben. Diese sechzig Jahre sind zugleich die längste Friedensperiode, die zumindest dem westlichen Europa in der neueren Geschichte geschenkt wurde. Ich weiß nicht, wie groß der Anteil des Friedenspreises an der Erhaltung des Friedens ist, doch hat er meiner Überzeugung nach zweifellos Anteil daran. Denn ohne den starken Willen der Mitlebenden zum Frieden ist eine lange Friedensperiode nicht denkbar, ohne die stete und periodisch wiederholte Erinnerung an das Glück des Friedens ist er nicht herzustellen.

Schon die Initiatoren des Friedenspreises haben sich die zentrale Erkenntnis erschlossen, dass nicht der Frieden, sondern der Streit der Urzustand des Menschen ist, dass deshalb der Frieden unter den Menschen – im Gegensatz zum Krieg – gestiftet werden muss. An Max Tau sollte der Friedenspreis ursprünglich am 22. April 1950, verliehen werden, nur aus organisatorischen Gründen musste man die Feier auf den Juni dieses Jahres verschieben. Doch in der Begründung für die Verleihung des Preises an Max Tau schrieben die Stifter, sie seien sich „der Verpflichtung des Datums der Verleihung“ sehr wohl bewusst:

„Denn der 22. April ist der Geburtstag Immanuel Kants, auf dessen Schrift ‚Zum ewigen Frieden’ noch heute alle Bestrebungen zurückgreifen, die in einem Herzensbund zwischen Frömmigkeit und Vernunft den einzigen Weg sehen, das zertrümmerte Bild des Menschen wieder aufzurichten und neues Blutvergießen zu verhindern“.

Das charakteristisch humanitäre Nachkriegspathos dieser Begründung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Stifter des Preises einen genauen Begriff von Kants Altersschrift hatten, die 1795, im Jahr des zwischen Preußen und Frankreich geschlossenen Friedens von Basel, erstmals gedruckt wurde. Dieser Friede legte bekanntlich eine Demarkationslinie fest, hinter der sich (wie auf einer Friedensinsel) bis 1806 das klassisch-romantische Jahrzehnt deutscher Kultur und Literatur entwickeln konnte. In seinem weit in die Zukunft schauenden philosophischen Entwurf eines dauerhaften Friedens schrieb Kant am Anfang dieser Friedensdekade:

„Der Friedenszustand unter Menschen, die nebeneinander leben, ist kein Naturzustand (status naturalis), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d.i. wenngleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben. Er muss also gestiftet werden; denn die Unterlassung der letzteren [das heißt der Feindseligkeiten] ist noch nicht Sicherheit dafür [...].“

Frieden ist also mehr als die bloße Unterlassung feindlicher Handlungen, er bedeutet die Sicherheit vor Krieg, bewaffnetem Überfall und Feindseligkeiten, zu denen Kant auch wirtschaftliche Schädigungen zählte, in einem jeweils gesetzlich geregelten und auf gegenseitigem Vertrauen beruhenden, gutnachbarschaftlichen Zustand. Für das 18. und das 19. Jahrhundert war dieser Staatenfrieden eine groß gedachte Utopie, auch wenn sich in der Realität der bloße Machtgedanke durchgesetzt hat.

Auch und gerade für das blutigste aller Jahrhunderte der neueren Geschichte aber, für das zwanzigste seit Beginn unserer Zeitrechnung, bedeutete Kants Entwurf eines dauerhaften Friedens eine Fiktion. Der „technisierte Massenmord“, zu dem sich der Krieg im Ersten und im Zweiten Weltkrieg entwickelte, bedeutete keineswegs das Ende des Krieges in der Welt. Die Hamburger „Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung“ hat, mit einer relativ weiten Definition dessen, was unter Krieg zu verstehen ist, für die Jahre zwischen 1945 und 2007 weltweit 238 Kriege gezählt, denen rund 25 Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Zwar hat sich von den Trägern des Friedenspreises nur Reinhold Schneider 1956 ausführlich mit Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ auseinandergesetzt, doch zieht sich deren Grundgedanke, dass der Friede zu allen Zeiten erst gestiftet werden muss, dass die Friedensarbeit eine der vornehmsten Verpflichtungen der vernunftgeleiteten Menschheit ist, wie ein roter Faden durch die Reden der Preisträger und ihrer Laudatoren.

Aber gerade um Reinhold Schneiders Friedens-Engagement gab es auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges heftige Debatten, weil er als ein Radikalpazifist galt, der wegen seiner kompromisslosen Ablehnung der Atombewaffnung, unter deren Schirm der Westen sich allein vor einem aggressiven und expansiven Kommunismus gesichert glaubte, im Verdacht der Kollaboration mit dem Osten stand. Arnold Stadler hat Reinhold Schneider „einen natürlichen Friedenspreisträger“ genannt, sich aber zugleich die Trauerfeier für den mit 53 Jahren (1958) gestorbenen Autor im Freiburger Münster vorgestellt: „[...] „was sie wohl gedacht haben mögen, die ihn gerade noch (als nützlichen Idioten des Kommunismus, wenn nicht als Kryptokommunisten) beschimpft hatten, nur weil er mit seinem Gewissen kam, das sich keinem Fraktionszwang unterordnete?“.

Es war eine mutige Entscheidung, Reinhold Schneider den im kulturellen Gedächtnis der Deutschen noch nicht gefestigten Friedenspreis zu verleihen. Der deutsche Buchhandel bekannte sich damit zu einem unbequemen Mahner, der strikt „der Zeit entgegen“ lebte, dessen unabänderlicher Friedenswille aber existentiell durch jenen „religiösen Sanitätsdienst“ beglaubigt war, den er in Tausenden von Briefen an die Soldaten an der Front, an die Verletzten, die Gefangenen, die Verfolgten, die Geängsteten, an die Sterbenden und die Trauernden (bis 1945 und darüber hinaus) unermüdlich geleistet hatte.

Schneider gehört in die Reihe der Friedensheroen, von Albert Schweitzer über Romano Guardini und Martin Buber bis zu Hermann Hesse und Karl Jaspers, durch die im ersten Jahrzehnt seiner Verleihung das Profil des Friedenspreises geschaffen wurde. Carlo Schmid hat ihn 1964 in der Laudatio auf den französischen Existenzphilosophen Gabriel Marcel „die Bürgerkrone der Menschlichkeit“ genannt und damit, unter Anspielung auf die corona civica der Römischen Republik, die höchste Auszeichnung gemeint, die einem Bürger von seinen Mitbürgern für die Errettung aus Lebensgefahr verliehen wird.

Carlo Schmid, damals Vizepräsident des Deutschen Bundestages, hat die Bürger als jene „Würdigen“ benannt, die mit dem von ihnen gestifteten Preis für Verdienste um den Frieden bezeugen, hier habe sich einer oder eine „höchstes Verdienst um die res publica“ erworben. Zu denen, die mit dieser Bürgerkrone gekrönt werden dürfen, zählte er auch „jene großen Einsamen, die durch ihr Beispiel der kraftvollen Jugend unserer Länder anderen Lorbeer begehrenswert erscheinen lassen als den der Schlachtfelder“.

Damit hatte er den Nerv des Friedenspreises getroffen, der als ein Bürgerpreis gestiftet und erhalten wurde und dieses Geburtsmerkmal in sechzig Jahren zunehmend bekräftigt hat. Die anfangs vor allem durch die kraftvolle Gestalt des ersten Bundespräsidenten drohende Staatsnähe hat der Börsenverein, im Einvernehmen mit und sogar auf Anregung von Theodor Heuss, zurückgedrängt und sich national und international stets zu den „großen Einsamen“ bekannt, deren „Widerreden“ gegen den Krieg das geistige Klima der Welt entschieden mitbestimmen.

Sie „widersagen“ – im emphatischen Sinn des Wortes – der von Thomas Mann 1955 beklagten „Regression des Menschlichen, einem Kulturschwund der unheimlichsten Art“, dem wir nicht nur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren. „Wie in einem Brennspiegel“ – heißt es im Vorwort zum Begleitbuch der Ausstellung – „repräsentiert der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels seit langem das Selbstverständnis der deutschen Zivilgesellschaft.“

Dieser Preis hat in den Laudationes, in den Preisreden, im Oeuvre der Preisträger, in der um sie herum entstehenden Öffentlichkeit, immer wieder latente, bewusst oder unbewusst verschwiegene Konflikte der nationalen, der europäischen und der weltbürgerlichen Gesellschaft zur Sprache gebracht, bei Jaspers, Walser, Kemal, Schimmel und anderen auch schwelende Konfliktherde zur hellen Flamme angefacht.

Ich behaupte nicht, dass ein solcher Anspruch mit jeder Preisverleihung eingelöst wurde, aber die Zahl der gesellschaftlichen Debatten, die um diesen Bürgerpreis entstanden sind, ist erstaunlich groß. Durch die Teilnahme oder (wie bei Susan Sontag, der Kritikerin der Bush-Administration, 2003) auch durch die demonstrative Abwesenheit von politischer Prominenz wird diese Funktion des Preises scharf beleuchtet.

Die Auswahl der Bilder für eine Ausstellung über die Geschichte des Friedenspreises ist deshalb schwierig, weil die Gefahr der Porträtreihung naheliegt, der die Stifter von Ruhmeshallen zu allen Zeiten erlegen sind. Und doch, meine ich, ist hier eine Auswahl gelungen, die mehr ist als nur die Dokumentation geschehener Ehrungen. Ich füge einige Kommentare an, um in die Reihe der Bilder einzuführen. Sie zeigen den roten Faden, der durch sechzig Jahre hindurch zu verfolgen ist.

Da ist zum Beispiel das Bild von Albert Schweitzer, wie er (1951) in Frankfurt aus dem offenen Wagen steigt, um zur Feier der Preisverleihung zu gehen, im Hintergrund sind die Fassaden der Repräsentationsbauten Frankfurts zwischen Zerstörung und Wiederaufbau zu sehen. Da ist Theodor Heuss bei der Preisverleihung an Karl Jaspers (1958) fotografiert, in fröhlichem Gespräch mit Hannah Arendt, der Laudatorin.

Das heißt der durch die innere Emigration gegangene Bundespräsident – im letzten Jahr seiner zweiten Amtszeit – sitzt zwischen der aus Deutschland vertriebenen Schülerin von Karl Jaspers und Jaspers selbst sowie seiner Frau Gertrud. Gertrud Jaspers war, wie Hannah Arendt, deutsch-jüdischer Abstammung. Ihr Mann hatte sich nicht von ihr getrennt, obwohl es von ihm verlangt worden war, und hatte ihr somit die Lagerhaft und den sicheren Tod erspart. Er musste dafür, selbst von KZ-Haft bedroht, seinen Heidelberger Lehrstuhl aufgeben und war mit Publikationsverbot belegt worden.

Der damals seit zehn Jahren in Basel lehrende Philosoph wird – so ist auf dem Bild zu sehen – in wenigen Minuten am Pult der Paulskirche den deutschen Parteien (zumal der SPD und der CDU) die Leviten in einer Weise lesen, wie dies in der kurzen Geschichte der Bundesrepublik noch niemals geschehen war. Er wird so wütende Reaktionen provozieren, dass in deren Lärm sein Anliegen unterging. Jaspers nämlich konstatierte den „unwahrhaftigen Grund“ von politischen Weltanschauungsparteien, die den Menschen bei Wahlen ständig das „Gefühl des Zwangs [vermittelten], zwischen zwei Übeln unwillig wählen zu müssen“.

Er entwarf die Vision eines „wahrhaftigen“ gesellschaftlichen Zustandes, in dem „die politischen Probleme aus der Sache entwickelt, nicht wahltaktisch konstruiert“ werden. Er entwarf eine schwer einzulösende, aber bis heute nicht einmal als Ideal anerkannte Vision sach- und menschenbezogener Parteiarbeit.

Es erscheint wie eine Antwort auf die von Jaspers gegebene Analyse der in Deutschland nach 1945 versäumten politischen Erziehung, wenn 1968 die Bilder von den Straßenkrawallen zur Verleihung des Friedenspreises an den senegalesischen Poeten und Politiker Léopold Sédar Senghor erscheinen. Es war wiederum eine aus der Zeit fallende Preisverleihung, so dass die Gründe für den gewalttätigen Protest gegen Senghor an den Haaren herbeigezogen werden mussten und der afrikanische Staatspräsident das Opfer einer bedenkenlos auf Öffentlichkeit setzenden Protestbewegung wurde. Das nämlich ist der Preis, der für die Verleihung einer „Bürgerkrone“ bezahlt werden muss, dass die Zivilgesellschaft und damit eine repräsentative Öffentlichkeit der sie tragende und verleihende Souverän ist.

Diese Öffentlichkeit aber ist beeinflussbar, manipulierbar, verführbar. Risiko und Chance also liegen bei diesem vielleicht wichtigsten Kulturpreis, den die Deutschen haben, nahe beieinander. „Öffentlichste Öffentlichkeit“ garantiere dieser Preis, hat Martin Walser 1998 gesagt und die ihm gegebene Chance genutzt, um eine gesellschaftliche Debatte darüber zu eröffnen, dass „Auschwitz [sich nicht dafür eigne], Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung“.

Der erhobene und belehrende Zeigefinger, mit dem Walser am Pult der Paulskirche doziert, sagt viel aus über die anschließende Walser-Bubis-Debatte, die eher um die richtige oder die falsche Wortwahl als um die Ritualisierung der deutschen Vergangenheit geführt wurde. Diese Debatte aber hatte Walsers Laudator Frank Schirrmacher schon mit dem ahnungsvollen Satz eingeleitet: „Müssen, frage ich den Börsenverein und den Stiftungsrat, Friedenspreisträger eigentlich friedfertige Leute sein?“

Auf dem in der Ausstellung gezeigten Bild ist nur Martin Walser selbst und das Mikrofon, in das er spricht, scharfgestellt. Die Umgebung ist lediglich unscharf wahrzunehmen. Es ist, als habe der Fotograf die Einsamkeit des Redners einzufangen versucht, auf die sich Walser in der anschließenden Debatte berufen hat, um sie sogleich mit dem scharf gestellten Mikrofon wieder zu dementieren. Am Mikrofon der Paulskirche sind Einsamkeit und Öffentlichkeit untrennbar miteinander verbunden. Die Auseinandersetzung um eine würdige Memorialkultur aber, in der Erinnerung mehr ist als eine neue Form des Vergessens, ist mit der von Walser eröffneten Debatte so öffentlich geworden, dass sich ihr seither niemand mehr entziehen kann.

So sind Gesten, Körperhaltungen und Situationen auf den stummen Bildern der Ausstellung oft eindrucksvoller und gelegentlich aussagekräftiger als das gedruckte Wort. Die dialogische Geste etwa des Priors von Taizé Roger Schutz, mit der er in der Paulskirche 1974 auch den ungebetenen Diskutanten in seinem Rücken ins Gespräch einbezieht, weist ihn tatsächlich als einen der Friedlichsten unter den Friedensstiftern aus. Sein und seiner Gemeinschaft Programm war die gelebte Solidarität mit den Besitzlosen. Und sein Tod – er wurde bekanntlich am 16. August 2005 von einer psychisch kranken Frau beim Abendgebet in der Versöhnungskirche in Taizé erstochen – verdeutlicht auf tragische Weise den Frieden als ein Skandalon in der grundsätzlich unfriedlichen Welt.

Da ist der distanzierende Händedruck, den Astrid Lindgren dem Vorsteher des Börsenvereins 1978 gewährt, nachdem dieser sie (im Vorfeld der Preisverleihung) von einer Dankesrede hatte abhalten wollen. Sie musste energisch auf ihrem Recht zu einer (bis heute zitierten) Rede bestehen. Diese Rede wurde dann mit zwei Laudationes gedruckt, weil der Vorsteher bereits einen zweiten Laudator bestellt hatte, der an Stelle von Astrid Lindgren über ihr Werk sprechen sollte. Die Rede Astrid Lindgrens über Gewalt in der Kindererziehung wäre heute kaum noch der Erwähnung wert, gäbe es da nicht die seither immer wieder zitierte Anekdote, die sie nach den Erinnerungen einer alten Dame erzählte:

„Sie war eine junge Mutter zu der Zeit, als man noch an diesen Bibelspruch glaubte, dieses: ‚Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben.’ Im Grunde ihres Herzens glaubte sie wohl gar nicht daran, aber eines Tages hatte ihr kleiner Sohn etwas getan, wofür er ihrer Meinung nach eine Tracht Prügel verdient hatte, die erste in seinem Leben. Sie trug ihm auf, in den Garten zu gehen und selber nach einem Stock zu suchen, den er ihr dann bringen sollte. Der kleine Junge ging und blieb lange fort. Schließlich kam er weinend zurück und sagte: ‚Ich habe keinen Stock finden können, aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen.’“

Die wenigen Zeilen enthalten die ganze Geschichte von Zorn und Frieden und Friedensschluss: Mutter und Sohn, berichtet Astrid Lindgren, haben sich anschließend umarmt und miteinander geweint.

Da ist der leere Stuhl zwischen dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und dem Vorsteher des Börsenvereins 1989, auf dem der tschechische Preisträger Václav Havel hätte sitzen sollen. Ihm aber wäre die Ausreise aus seiner noch unter kommunistischer Herrschaft stehenden Heimat nur als Reise ins Exil gestattet worden, so dass er nicht nach Frankfurt kam. Nur wenige Monate später, im Dezember 1989, wurde Havel zum ersten Präsidenten einer demokratischen Tschechoslowakei gewählt.

Da sitzen der Kurde Yaşar Kemal und sein Laudator Günter Grass 1997 Hand in Hand in der ersten Reihe und hören auf die Begrüßungsworte, die beiden vielleicht bedeutendsten Epiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, einander im Wort verbunden, obwohl keiner die Sprache des anderen spricht. Und da ist im letzten Jahr des alten Jahrhunderts (1999) der amerikanische Historiker Fritz Stern zwischen seiner Frau und dem Bundespräsidenten Johannes Rau zu sehen, lächelnd, als dächte er, dass dieses Jahrhundert, in dem er zehnjährig dem Todeslager mit knapper Mühe entkam, vielleicht doch noch ein versöhnliches Ende nehmen könnte?

Nur zwei Jahre später, im Oktober 2001, das heißt wenige Wochen nach „Nine Eleven“, wurde dem Philosophen Jürgen Habermas bei seiner Preisrede von der „bedrückenden Aktualität des Tages die Wahl des Themas aus der Hand gerissen“. Das neue Jahrhundert hat so blutig begonnen, wie das alte geendet hatte. Nur die Form des Krieges hat sich (asymmetrisch) verändert, dieser selbst hat sich konsequent nochmals insofern brutalisiert, als nun die Gesamtheit der Zivilbevölkerung der Erde darin einbezogen ist. So entschloss sich Jürgen Habermas, angesichts des religiös motivierten Fanatismus der Terroranschläge gegen die amerikanischen Machtzentren, zu einer Rede über „Glauben und Wissen“.

Darin ist die Schuldfrage nicht nach einem Schwarz-Weiß-Schema verteilt und die uns alle bedrängende Diskussion wurde auf ein Niveau gehoben, welches die öffentliche Debatte noch längst nicht eingeholt hat. „Gott“, heißt es in dieser Rede, bleibe „nur so lange ein ‚Gott freier Menschen’, wie wir die absolute Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht einebnen.“ An einer solchen Einebnung aber, so scheint mir, arbeiten die Industriestaaten der Welt mit Macht, und es könnte sein, dass wir im Erfolgsrausch dieser Arbeit die nachdenkliche Stimme des Philosophen überhören, wonach „die ins Leben rufende Stimme Gottes [...] von vornherein innerhalb eines moralisch empfindlichen Universums“ kommuniziert.

Dass Bilder und Worte nur Ausschnitte des Lebens sind und die Wahrheit oftmals eher verschleiern als enthüllen, auch darüber geben die Bilder dieser Ausstellung Auskunft. 1995 wurde der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an die Orientalistin Annemarie Schimmel verliehen. Die in Mediengebrauch und Interviewtechnik gänzlich unerfahrene Frau wurde am Abend der Bekanntgabe der Preisträgerin von Sabine Christiansen in den Tagesthemen der ARD nach ihrer Stellung zur iranischen Fatwa gegen Salman Rushdie’s „Satanische Verse“ gefragt.

Annemarie Schimmel hat versucht, wissenschaftlich, das heißt, statt plakativ, differenziert zu antworten. Sie hat also begonnen, die Reaktion von Muslimen auf dieses Buch zu schildern und gesagt, sie habe Muslime darüber weinen gesehen. Sie wollte sichtbar ein „aber“ hinzufügen, doch an dieser Stelle hat die Moderatorin das Gespräch abgebrochen, so dass dieses: „Ich habe Muslime weinen gesehen“ als letzter, pointierter Satz Annemarie Schimmels im Gedächtnis blieb und fortan so zitiert wurde. Die von der Wucht der ihr nun entgegenschallenden Anklagen völlig überraschte Professorin wurde Objekt einer von April bis Oktober dauernden, radikalfeministischen Kampagne, in der ihr Sympathien mit dem Terrorismus, mit dem Regime Khomeinis, vorgeworfen wurden.

Eine nennenswerte Chance zur Verteidigung hatte sie nicht. Sie wurde zur Projektionsfläche von Angriffen, die sie letztlich aus der Gemeinschaft der westlich und freiheitlich gesinnten Frauen auszuschließen versuchten. Annemarie Schimmel hat damals zu Bonner Freunden gesagt, sie würde am liebsten alle ihre Bücher in den Rhein werfen und hinterdreinspringen, da sie doch nicht gelesen würden und ihr ganzes Lebenswerk nur nach einem einzigen im Fernsehen abgebrochenen Satz beurteilt würde.

Die Jury des Friedenspreises blieb standhaft. Einige ihrer Mitglieder, darunter Hans Maier und ich, haben Annemarie Schimmel auch öffentlich verteidigt. Entscheidend aber war, dass der Bundespräsident, Roman Herzog, der die Laudatio zugesagt hatte, seine Zusage einhielt. Er kannte Annemarie Schimmel, weil sie ihn beim Staatsbesuch in Pakistan begleitet hatte. Am Tag der Preisverleihung standen vor der Paulskirche sieben burkaartig verschleierte Demonstrantinnen (oder Demonstranten) in Turnschuhen, die Plakate mit mehr oder weniger bösartigen Parolen gegen Annemarie Schimmel zeigten: „Wir wollen nicht verschimmeln“ stand da zu lesen, oder „Khomeinipreis für Annemarie Schimmel“, etc.

Die wirksam verkleideten Demonstrantinnen sind auf dem ausgestellten Bild zu sehen, nicht zu sehen ist, dass es erstaunlicherweise nur diese sieben gewesen sind, dass von anderen und damit nennenswerten Demonstrationen bei der Preisverleihung nicht die Rede sein konnte. Nach den Reden des Bundespräsidenten und der Preisträgerin, die hier erstmals die Möglichkeit hatte, zu einer halbjährigen Verleumdungs-Kampagne vor einer breiten Öffentlichkeit Stellung zu nehmen, ist die Auseinandersetzung schlagartig verstummt. Die törichte und hasserfüllte Kampagne aber hat damals jede Möglichkeit abgeschnitten, ernsthaft jene längst dringliche, gesellschaftliche Debatte über das Verhältnis von Muslimen und Christen zu beginnen, das heute zu einem Lebensproblem der westlichen Zivilisation geworden ist.

Annemarie Schimmel, die in Pakistan, im Iran, in der Türkei, in Afghanistan und in anderen Ländern des muslimischen Orients wie ein Sufi, als eine mystisch-fromme und weise Frau, verehrt wird, auf deren Wort mehr zu vertrauen ist als auf die Worte der selbsternannten heiligen Krieger und die Untaten ihrer fanatischen Gefolgschaft, hätte uns bei der schweren Integrations- und Friedensarbeit behilflich sein können. Sie besaß den Schlüssel zu vielen heute aus Misstrauen wieder verschlossenen Türen.

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ist ein Spiegelbild der Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland vor und nach der Vereinigung, der großen und der kleinen Debatten über die Selbstverständigung der Deutschen, über ihre Gewinne und ihre Versäumnisse. Vielleicht konnte sich ein Preis für Friedensstifter in dieser Form und mit dieser Ausstrahlung tatsächlich – wie Martin Schult meint – nur in Deutschland entwickeln, wo so viele Kriege geführt wurden, wo aber auch der Frieden in einer Weise groß und dauerhaft gedacht wurde, wie nirgendwo sonst auf der Welt. Mitten im Inferno des Ersten Weltkriegs (1918) hat der österreichische Satiriker Karl Kraus einen Satz aus Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ wiederholt. Er lautet:

„Bei dem traurigen Anblick nicht sowohl der Übel, die das menschliche Geschlecht aus Naturursachen drücken, als vielmehr derjenigen, welche die Menschen sich untereinander selbst antun, erheitert sich doch das Gemüt durch die Aussicht, es könne künftig besser werden; und zwar mit uneigennützigem Wohlwollen, wenn wir längst im Grabe sein und die Früchte, die wir zum Teil selbst gesät haben, nicht einernten werden.“

Karl Kraus fügte diesem Zitat ein Gedicht hinzu, aus dem ich nur vier Zeilen zitiere:

„Nie las ein Blick, von Tränen übermannt,
ein Wort wie dieses von Immanuel Kant.

Bei Gott, kein Trost des Himmels übertrifft
Die heilige Hoffnung dieser Grabesschrift.“

Vielleicht, meine Damen und Herren, gelingt es Ihnen, in der kleinen Fotoausstellung einem Hauch dieser Hoffnung zu begegnen.


Literatur

  • Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Königsberg 1795
  • Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Reden und Würdigungen 1961 – 1998. 5 Bde. Frankfurt am Main 1961 – 1999 (sowie die anschließenden Einzeldokumentationen der Preisvergabe von 2000 bis 2009)
  • Warum denn nicht Friede? 50 Jahre Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Hg. vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Frankfurt am Main 2000
  • Worte wirken. Hg. vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Frankfurt am Main 2005
  • Widerreden. 60 Jahre Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Hg. für den Börsenverein des Deutschen Buchhandels von Stephan Füssel, Wolfgang Frühwald, Niels Beintker, Martin Schult. Frankfurt am Main 2009
  • Jan Philipp Reemtsma: Eröffnung der Ausstellung ‚Strahlungen. Atom und Literatur’. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 53 (2009), S.521 – 533.