Von "einem Wunder" sei in den vergangenen Tagen mehrfach in der Presse zu lesen gewesen, merkte Bürgermeisterin Jutta Ebeling in ihrem Grußwort an. Die Rede ist von dem Wunder, dass die Neuausgabe des dank Schöffling quasi wiederentdeckten Buches von Valentin Senger, "Kaiserhofstraße 12", tatsächlich von einer ganzen Stadt gelesen wird: mit mehr als 120 Veranstaltungen, der Unterstützung von 100 Mitwirkenden, 70 Kooperationspartnern und 25 Partner-Buchhandlungen. Eine Lektüre als Bürgerbewegung noch bis zum 9. Mai.
Von einem weitaus größeren Wunder, dem Überleben einer jüdischen Familie mitten in Frankfurt zur Zeit des Nationalsozialismus, handelt Sengers Bericht. Kulturdezernent Felix Semmelroth hob zur Eröffnung des Lesefestes das aus seiner Sicht Außergewöhnliche des Buches hervor, den "nüchternen Ton und das fehlende Pathos". Senger sei es gelungen, das Unglaubliche, das er und seine Familie erfahren hätten, festzuhalten. Diesen "Pageturner" zu lesen, bei dem man von Anfang an dringend wissen wolle, wie alles weitergeht, vermittle auch eine Hoffnung: dass sich noch in Zeiten wie der Nazi-Diktatur Menschen "einen letzten Rest von Anstand und Empathie" bewahren können
Klaus Schöffling zeigte sich selbst überrascht, auf welch enorme Resonanz seine Initiative überall gestoßen sei. Normalerweise höre jemand, der in Frankfurt etwas Ungewöhnliches, zumal Kulturelles auf die Beine stellen wolle, eher Sätze wie diese: "Meinste wirklich? Komm, geh fort! Das haben wir noch nie so gemacht." Viele Lacher im Saal, von Einheimischen.
Den Anfang von "Frankfurt liest ein Buch" machte anschließend Prominenz aus der Kultur- und Medienwelt der Stadt. Unter anderem lasen der Journalist Frank Lehmann, Schauspiel-Intendant Oliver Reese, der Schauspieler Michael Quast und die Schriftsteller Jan Seghers und Alissa Walser. Der – naturgemäß – wortlastige Abend wurde durch wunderbare Jazz-Intermezzi Emil Mangelsdorffs am Saxophon musikalisch begleitet.
Zum Schluss der für viele wohl berührendste Moment: Valentin Sengers Witwe Irmgard Senger erzählte davon, wie es überhaupt zu dem Buch hatte kommen können, genauer: kommen müssen. Ihr Mann habe, nachdem die Rundfunk-Aufzeichnung einer Sendung mit ihm – Senger war Journalist beim HR – wegen starken Zitterns in seiner Stimme abgebrochen worden war, psychotherapeutische Hilfe bei einem befreundeten Arzt im Odenwald gesucht. Als sie in dort, nach einigen Wochen der Therapie, in der Klinik besuchte, sei der Anfang des späteren Buches geschrieben gewesen. Senger hatte zu Worten gefunden – und konnte sein Traumawunder zur Sprache bringen.