Natürlich weiß man, was das lateinische Wort lector, -oris, m. bedeutet, was aber der Beruf des Lektors ist, das scheint zwischen dem, was sein Verlag von ihm verlangt, und dem, was die Literatur verlangt, im Ungefähren zu verschwimmen oder sich gar aufzulösen. Zum einen versucht man, ihm immer mehr Kompetenzen zuzuweisen, macht ihn zu einem Book Producer, der den Text auf seine Marktfähigkeit prüft und gegebenenfalls optimiert und dann für das Buch die Marketingvorgaben liefert und es vom Klappentext und den Covervorschlägen bis zur Presseaussendung und dem Autorencoaching gleitfähig macht.
Zum andern ist der Lektor, wie zahllose Feuilletonklagen gezeigt haben, derjenige, der in knappen Zeiten als Erster abgeschafft wird oder zumindest ins Unsichtbare outgesourct, wo er in seiner Vorstadtmansardenwohnung sitzt und Kommas einsetzt oder Absätze markiert. Mit etwas Glück darf er das auch in einem bescheidenen Büro erledigen mit zwei, drei Kolleginnen, und alle drei zusammen versuchen, unter dem Motto "Wir machen Bücher fit" aus dem Wandel von Verlagen zu Buchhandelskoordinationsbetrieben ihren kleinen Profit zu schlagen.
In all diesen Fällen wird davon ausgegangen, dass der Text in Wahrheit nur noch einen Korrektor braucht, wenn er angenommen wurde, nicht aber jemanden, der denkt, der Text brauche noch eine ganz andere Behandlung: Etwas "Unfertiges" hätte man doch niemals akzeptiert. Und da ja jeder Text, welcher Art auch immer er ist, sein mögliches Publikum selbst definiert – wenn auch leider oft etwas unscharf –, müssen nur noch Mittel und Wege gefunden werden, wie dieses Publikum optimal angesprochen und erreicht werden kann.
So weit, so gut. Für vieles, ja das meiste, was heutzutage Buch wird, genügt das auch, und zwar für alle jene Bücher, die sich in vertrautem Gelände bewegen. Die Sprache ist – nicht nur im Alltag, sondern auch im überwiegenden Teil der Literatur – Transportmittel, nichts sonst. Und dieser Transport, wir wissen das von der Bundesbahn, sollte eben möglichst reibungslos und kundenfreundlich über die Bühne oder den Tresen gehen.
So mancher Leser wird sich nun vielleicht denken: Jetzt kommt er gleich mit der Königsklasse daher, den literarischen Lektoren, den Nobelpreisassistenten, jenen, die auch im Schwerstverständlichen noch Schleichwege zum Verständnis finden für die happy few. Darauf kann ich nur sagen: Ja, so ist es. So, wie auch der Buchhandel sich nicht in erster Linie als die Bücherecke im Supermarkt repräsentiert sehen möchte, so wenig wie Verlage etwa als Selbstzahlerdruckanstalt, so wenig ist der Lektor nur ein Kommafuchser oder Marketingmax.
Vielmehr ist er – oder sollte es jedenfalls sein – ein hellhöriger und hellwacher Literaturfantast, der bei jedem Text, der ihn als Manuskript erreicht, ahnt, wo der hinwill. Wenn er nicht sofort erfasst, was das Ziel des Textes ist, ja was das "Ziel" der Literatur unserer Tage ist, wäre, sein sollte, dann hat er keinen Maßstab. Tatsächlich muss der Lektor aus dem, was vor ihm liegt, extrapolieren, was vor ihm liegen sollte, um von seinem Autor das verlangen zu können, was er leisten könnte.
Nicht jedes Buch muss Hochliteratur enthalten, wahrhaftig nicht. Den Maßstab aber liefert nicht der Dritte in der Regionalliga, auch nicht der Erste. Den Maßstab liefert der kommende Weltmeister.