Suhrkamp eröffnet in Berlin-Mitte

Die Buch-Galerie

7. Mai 2010
Redaktion Börsenblatt
Wer die Linienstraße in Berlin Mitte googelt, bekommt schnell „exklusive Townhouses“ und „Luxus-Eigentumswohnungen“ angeboten. Hier findet allwochenendlich im Kreisverkehr mit der Auguststraße die Galerie-Regatta statt. Jetzt hat die Gegend eine weitere Attraktion: den Laden der Edition Suhrkamp, keineswegs ein Outlet zu Remittenden-Preisen, sondern die stolze Selbstdarstellung einer Marke.

Am Eröffnungsabend war der Laden gedrängt voll mit Autoren, Kritikern, Buch- und Verlagsmenschen, aber auch einströmendem Straßenpublikum. Deckenhoch werden die 2600 Bände der Edition präsentiert in der Birkensperrholzregalwand von Möbel Horzon. Weiß wie die Regale sind auch die Wände. Auf den bunten Patchwork-Sofas von Möbel Schübbe (aus recycelten Materialien) sitzt man hart und gut. Zum Wachmachen gibt’s, falls die Lektüre nicht genügend anregt, die koffeinreiche Fritz-Cola.

Die Geschäftsidee zielt auf Kunden, die sich sonst eher nicht in Buchhandlungen oder Lesungen verirren: Eine Buch-Galerie, wo man sich treffen oder schmökern kann, wo Buchvorstellungen, Filmvorführungen und Diskussionen stattfinden, wo man an Samstagnachmittagen mit Autoren wie Rainald Goetz und Dietmar Dath „abhängen“ kann. Und wo sich gegebenenfalls gleich die komplette Edition samt Regal als Gesamtkunstwerk für zuhause ordern lässt. Niemand wird jedoch daran gehindert, ganz gewöhnliche Bestseller aus anderen Verlagen zu bestellen – es ist eben auch ein Buchladen, in Kooperation mit der Autorenbuchhandlung am Savignyplatz. Deren Betreiber, Joachim Fürst und Marc Iven, haben sich schnell für das Projekt begeistert.

Suhrkamp-Geschäftsführer Jonathan Landgrebe sprach einleitende Worte und nannte als Beleg für die bleibende Aktualität der Edition Suhrkamp scherzhaft Band 918, „Die Krise der Staatsfinanzen“ von Klaus-Martin Groth aus dem Jahr 1979. Raimund Fellinger, der die Edition als Lektor lange betreut hat, rekapitulierte ihre Geschichte. Als „Entdeckerreihe“ 1963 gestartet, wurde sie schnell zur Reihe der Revolte: mit viel Brecht, Bloch und Adorno, Theorie des Klassenkampfs und Theorie der ästhetischen Avantgarde – aber auch Ludwig Wittgenstein und Roland Barthes, Uwe Johnson und Peter Sloterdijk, später Rainald Goetz und Durs Grünbein. Nur Originalausgaben, so lautet bis heute die Devise, die so uneingeschränkt nicht gelten kann, da das mir liebste, persönlich wichtigste und vollgekritzeltste Buch der Edition Suhrkamp der Band 1100 ist: „Ulysses“ von James Joyce, aus dem Jahr 1981, sechs Jahre nach der Erstausgabe der legendären Wollschläger-Übersetzung.

Mitte der sechziger Jahre wirkte das Taschenbuch in minimalistischer Aufmachung noch formal provokativ im Schwarten-Umfeld. Willy Fleckhaus verschaffte der Reihe das Erscheinungsbild, das zum Klassiker modernen Buchdesigns wurde: Jeder der 48 Bände eines Jahres trägt eine andere Farbe des Lichtspektrums. Auf der Frontseite finden sich keine Bilder, nur Titel und Name des Autors, getrennt durch Linien. Erst seit einigen Jahren wird der Name des Autors etwas fetter gedruckt. Einigen Autoren ist diese Hervorhebung zu wenig, zumal Taschenbücher längst nicht mehr den Appeal der Avantgarde, sondern einen schweren Stand im Buchgeschäft haben, dessen Durchlaufgeschwindigkeit immer noch zunimmt. So fühlt sich der eine oder andere Suhrkamp-Autor, dessen Roman in der Edition seinen Publikationsort findet, in die Reihe eher abgeschoben und würde ein vielleicht weniger ehrenvolles Hardcover mit entsprechender Einzelaufmerksamkeit, höherem Ladenpreis, höherer Auflage und höherem Honorar bevorzugen. Ein gewisser Trost liegt darin, dass die Backlistpflege in der Edition grundsätzlich gewährleistet ist, während viele Verlage inzwischen die kostspielige Lager-Haltung alter Titel eher vermeiden. Wer in der Edition schreibt, der bleibt erst einmal.

Am ersten Abend gab es eine Doppel-Lesung mit Bernd Cailloux und Detlef Kuhlbrodt. Da saßen zwei literarische Hauptstadt-Flaneure vor dem Riesen-Regal auf Stühlen, so dass sie vom größten Teil des Stehpublikums garantiert nicht gesehen werden konnten, und lasen dank des Mischpultproblems so leise, dass sie von den meisten Besuchern nicht verstanden werden konnten. Da wäre ein dezent abgespieltes Hörbuch als literarische Loungebeschallung besser gewesen – weniger kränkend für die gegen das Gemurmel anlesenden Autoren. Die Pointen aus Cailloux’ Buch „Der gelernte Berliner“ verpufften schmerzlich wirkungslos; bei unkomischen Sätzen hörte man dagegen Gelächter, das sich nicht auf den Text bezog. Das muss noch besser werden.

Stand die Edition Suhrkamp einst für gehobene Bürgerschreckästhetik, so wäre man heute, wo viele reale Schrecken näher kommen, froh über das wiedererwachende Interesse einer ästhetisierenden Bürgerjugend. Jetzt finden die Flaneure auf der Berliner Trend- und Designmeile jedenfalls auch etwas für die geistige Schuhgröße. Bis zum 24. Juli soll der Edition-Suhrkamp-Laden geführt werden. Aber niemand möchte ausschließen, dass es im Erfolgsfall auch in die Verlängerung geht.