Börsenverein

Detlef Bluhm: Über den Buchhandel von morgen

7. Mai 2010
Redaktion Börsenblatt
Was das Kino mit dem Thema E-Book zu tun hat? Mehr als man denkt. Digitalisierungs-Thesen von Detlef Bluhm, Geschäftsführer des Landesverbands Berlin-Brandenburg.

Beim Mitgliedertreffen des Landesverbands Nordrhein-Westfalen hat am 5. Mai in Bonn auch ein Gast aus Berlin gesprochen: Wir dokumentieren den Vortrag von Detlef Bluhm zum Thema "Buchhandel morgen – ein Blick in Gegenwart und Zukunft"

"Ein Vortrag über den Buchhandel wäre im Prinzip mit ein paar halbwegs intelligenten Beobachtungen und launigen Bemerkungen zur Zufriedenheit des Veranstalters und des Publikums wohl ohne große Anstrengung über die Bühne zu kriegen, stünde nicht das Wort Zukunft am Ende des gesetzten Themas. Das Unterfangen, einen Vortrag über die Zukunft zu halten, birgt in sich stets den Vorteil großer Aufmerksamkeit, andererseits eine nicht unerhebliche Gefahr, die durch das Thema gesteigerten Erwartungen der Zuhörer zu enttäuschen, obwohl Sie natürlich alle wissen, dass man in der Zukunft nicht einfach so vorbeischauen kann, wie in seiner Lieblingsbuchhandlung.
 
Wenn Sie nun denken, ich würde mich schon an dieser Stelle mit ein bisschen Wortakrobatik leise aus dem gestellten Thema herausschleichen wollen, haben Sie sich getäuscht. Denn ich werfe jetzt tatsächlich einen Blick in die Zukunft, sogar einen Blick, der mit Zahlen und Fakten untermauert ist. Denn die Zukunft hat längst begonnen. Noch nicht mit großem Schwung in unserer Branche – aber das ist eine Feststellung, die hier niemanden überraschen wird. Ich will auch nicht über die Musikindustrie reden, die seit Jahren unser Thema und deshalb inzwischen abgegrast ist.

Nein, ich möchte Ihnen zunächst etwas aus der Filmwirtschaft erzählen, aus der Traumfabrik, die im letzten Jahr zu neuen Ufern aufgebrochen ist, ohne dass dies in unserer Branche  bisher hinreichend zur Kenntnis genommen wurde.
 
Zwei Hollywood-Produktionen sind vor Monaten hintereinander hier in Deutschland angelaufen, um Furore zu machen: Der Avatar von David Cameron und Alice im Wunderland von Tim Burton. Das besondere dieser beiden Filme war ihre Auslieferung an die Kinos als analoge 35-Millimeter-Filmkopie und gleichzeitig als DCP, also als Digital Cinema Package in der 3D-Version. Wie wir alle wissen, waren diese beiden Filme nicht die ersten, die in einer völlig neu entwickelten 3D-Version gezeigt wurden, aber Avatar avancierte zum erfolgreichsten Film aller Zeiten und Alice im Wunderland hat auch ordentlich Kasse gemacht.

Nun sind von den insgesamt 4000 kommerziellen Leinwänden in Deutschland erst knapp 10% technisch in der Lage, diese 3D-Versionen vorführen zu können. In den so ausgestatteten Kinos wurde aber etwa 70% des Umsatzes mit Avatar und Alice im Wunderland generiert. Zum Marketing-Signet von Alice im Wunderland hat Tim Burton die Cheshire-Katze, die Grinsekatze von Lewis Carroll erkoren, die im Film selbst und in den Trailern in 3D eindrucksvoll in Szene gesetzt wurde. Nun könnte man meinen, dass angesichts der enormen Umsätze beider Filme das Gesicht der grinsenden Katze auch die Gesichter der Kinobetreiber zum Grinsen gebracht hätte. Falsch. Im Gegenteil hat der Erfolg beider Filme bei der großen Mehrzahl der Kinobesitzer, also gewissermaßen bei den Einzelhändlern der Filmwirtschaft, eher Sorgenfalten auf die Gesichter projeziert. Woran das liegt? Ganz einfach.

Die Umrüstung der Kinos von der analogen zur digitalen Vorführtechnik kostet pro Leinwand etwa 120.000 Euro. Und während es der herkömmliche 35-Millimeter-Projektor auf eine Lebenszeit von etwa 40 Jahren bringt, muss sein digitales Pendent nach spätestens acht Jahren Betriebszeit ausgetauscht werden. Ob diese Investition sich amortisiert, hängt also aus Sicht des kinematographischen Einzelhandels allein davon ab, ob während dieser Zeit genügend Blockbuster die Säle in der notwendigen Frequenz füllen werden.
 
Für Hollywood sieht die Rechnung anders aus … ganz anders. Die Herstellung einer 35-Milimeter-Kopie kostet 1.000 Euro. Ein Digitalisat schlägt dagegen mit lediglich 80 Euro zu Buche. Und während eine Filmrolle 25 Kilo wiegt, ist das Digital Cinema Package mit 1,5 Kilo ein echtes Leichtgewicht, was die Transportkosten minimiert. Für die Studios und Filmverleiher bringt die Digitalisierung also weltweit jährliche Einsparungen in Milliardenhöhe, während die Kinos mit den Kosten der Umrüstung belastet werden. Auf dem Hintergrund dieser Zahlen wundert es nicht, dass Hollywood eine gigantische Marketing-Strategie inszeniert hat, um uns die Vorzüge der neuen Technologie schmackhaft zu machen.
 
Es würde den zeitlichen Rahmen dieses Vortrages sprengen, an dieser Stelle zu überlegen, ob überhaupt, und wenn ja welche Strategien sich aus der Digitalisierung der Filmindustrie für unsere Branche ableiten lassen. Ich möchte jetzt vielmehr auf ein anderes Thema kommen, dass ich für mich mit der provokativen Überschrift Unser Feind der Algorithmus versehen habe. Wobei ich unter unser unsere Branche, und hier insbesondere den Bucheinzelhandel verstehe.

Wenn man den Namen Google googelt, tauchen mehr als anderthalb Milliarden Suchergebnisse auf – in 0,14 Sekunden. (Stand: Dienstag, 4. Mai, 21:52 Uhr) Wem wird bei dieser Korrelation nicht schwindlig? Diese kleine Recherche ist ein Hinweis auf die unvorstellbare Rechnerleistung, über die die wertvollste Marke der Welt inzwischen verfügt. Wer aber meint, dass diese Rechnerleistung hauptsächlich für die Begriffssuche im Netz verwendet wird, der irrt. Womöglich viel bedeutender als die Suche im Netz nach eingegebenen Begriffen ist Googles Fähigkeit, aufgrund unserer IP-Adresse unsere Surfgeschichte so gut wie vollständig zu speichern und daraus ein persönliches Profil zu erstellen. Dazu dienen auch Nutzungen und Daten, die wir in GoogleNews, GoogleMaps, GooleView, GoogleMail, Google Bildsuche, Google Videos und YouTube, Google Kalender und vielen anderen Diensten hinterlassen.

Vielen von Ihnen wird womöglich gar nicht bewusst sein, dass Sie eine individualisierte Ergebnisliste angezeigt bekommen, wenn Sie einen Begriff in Google eingeben. Sie sehen dann dort also keinesfalls ein objektives Ranking, sondern eine Liste, die Google für Sie aufgrund ihrer bisherigen Nutzung im Netz zusammenstellt, eine Liste, die objektive Relevanz und subjektive Interessen auf geheimnisvolle Weise miteinander kombiniert.

Ähnlich nutzt Amazon die millionenfachen Recherchen ihrer Kunden für die Analyse und Parametrisierung der Daten seiner Nutzer. Welche Bücher werden wie oft gekauft? Welche Autoren mehr als einmal beschafft? In welchen zeitlichen Abständen? Welche Interessensgebiete lassen sich aufgrund der Recherchen und Käufe ablesen?

Aber Buchkäufer kaufen ja auch andere Artikel bei Amazon!

Anders als der Buchhändler erhält Amazon dadurch weitere Informationen über seine Kunden. Wofür geben sie ihr Geld noch aus? Welche Interessensgebiete tauchen dabei zuzsätzlich auf, Interessen, die bisher allein über die Buchkäufe nicht erkennbar waren? Welche Artikelkäufe könnten also zu weiteren gezielten Buchempfehlungen führen? Der diesem ganzen Prozess zugrundeliegende Algorithmus wird zu immer genaueren Ergebnissen führen. Je mehr Datenspuren der Kunde hinterlässt, umso präziser lässt sich sein Einkaufsverhalten erkennen, umso genauer lassen sich sinnvolle  Kaufempfehlungen generieren.

Hier entsteht aufgrund der gewonnenen Daten und ständig verbesserter algorithmyscher Analysen eine digitale Händlerkompetenz, die womöglich bald nur noch von der Minderheit unserer Buchhandlungen erreicht werden könnte. Und dann tauchen neben Amazon wohl noch in diesem Jahr Google und Apple auf dem Markt als globale, relevante Einzelhändler auf …

Die Hinweise auf die Zustände in der Filmindustrie und auf die Bedeutung des Algorithmus beim Verkauf von Büchern im Netz sollten illustrieren, wie tiefgreifend die Digitalisierung unsere Welt verändert hat und weiter verändern wird. Wer da meint, für unsere Branche bedeute Digitalisierung nichts mehr als die Transformation eines Inhalts von einer analogen in eine digitale Form und die Hauptprobleme, die dabei zu lösen seien, wären technischer und vertrieblicher Natur, der hat wirklich noch nicht verstanden, dass wir in einer Medienrevolution leben und wie diese dabei ist unsere Branche und unser Leben zu verändern.

Was aber ist eigentlich eine Medienrevolution?

Unter einer Medienrevolution versteht man im Kern die Einführung eines neuen Speichermediums und die Übertragung der Inhalte von einem traditionellen in ein medientechnisch verändertes Format.
Die erste Medienrevolution fand etwa im 8. Jahrhundert v. Chr. statt. Zu dieser Zeit begann man mit der schriftlichen Fixierung vorher mündlich überlieferter Texte. Es war vor allem das Werk Homers, das so der Nachwelt erhalten blieb. Theoretisch formuliert spricht man hier von der Ablösung des Körpergedächtnisses durch das Schriftgedächtnis. Das Speichermedium Gehirn wurde durch das Speichermedium Papyrusrolle abgelöst.

Die zweite Medienrevolution ereignete sich um Christi Geburt. Hier wurde die Papyrusrolle vom Kodex, also dem gebundenen Buch aus Pergament abgelöst.

Die dritte Medienrevolution wurde von Johannes Gutenberg ausgelöst. Sie führte zur Ablösung des handgeschriebenen durch das gedruckte Buch.

Wir leben mitten in der vierten Medienrevolution. Sie zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass Inhalte nun digital weltweit und in unbegrenzter Anzahl auf verschiedenen elektronischen Lesegeräten (Computer, Smartphone, E-Book-Reader, iPad usw.) jederzeit abgerufen und gelesen werden können.

Wie man an den Medienrevolutionen der Vergangenheit sehen kann, hat das neue Speichermedium das alte schließlich vollständig verdrängt. Die fahrenden Sänger der griechischen Antike, die Papyrusrolle und der Pergamentkodex existieren nicht mehr. Insofern ist die Frage berechtigt, ob nicht E-Books und ihre technischen Lesegeräte eines Tages den Tod des gedruckten Buches bewirken könnten.

Ein derartiger Prozess wird nicht vollständig auszuschließen sein, es sprechen aber eine Reihe von Befunden eher dafür, dass das gedruckte Buch auch in den Zeiten der Digitalisierung seinen Platz behaupten wird.

1. Das gedruckte Buch hat in seiner über 500-jährigen Geschichte eine thematische, strukturelle und herstellerische Differenzierung erlebt, wie kein anderes Medium in der Geschichte zuvor.

2. Es wird nicht – wie seine Vorgänger – lediglich in den Kreisen der Oberschichten genutzt, sondern hat sich zu einem Massenmedium im besten Sinne dieses Wortes entwickelt.

3. Es gehört seit Jahrhunderten zu unserer kulturellen Identität und ist nach den Worten des Verlegers Michael Krüger »das einzige Objekt unserer Zivilisation, auf das wir wirklich stolz sein können.«

Und es ist viertens wie kein anderes Medium dazu geeignet, komplexe und umfangreiche Inhalte adäquat darzustellen, zu speichern und abrufbar zu halten.

Dennoch wird sich das, was wir in der Vergangenheit als Buch bezeichnet haben, und damit auch unsere gesamte Branche, radikal verändern, denn die gegenwärtige Medienrevolution ist nur ein Teil der Digitalen Revolution, die längst unser ganzes Leben erfasst hat. Ich kann in diesem kurzen Vortrag unmöglich auf alle Bereiche eingehen, die in unserer Branche vom Prozess der fortschreitenden Digitalisierung tangiert werden und möchte mich deshalb jetzt im zweiten Teil meiner Ausführungen in Thesen und kurzen Erläuterungen auf fünf Themen beschränken, die wir dann in unserer Podiumsdiskussion vertiefen können: Das Leseverhalten, das gedruckte Buch, das E-Book, der Buchhandel und das Web 2.0 …

Ich habe diese Thesen übrigens bereits vor knapp anderthalb Jahren für mein Buch »Autoren, Bücher und Piraten – Eine kleine Geschichte der Buchkultur« formuliert, das im Sommer letzten Jahres erschienen ist und mich wohl auch für diesen Vortrag empfohlen hat. Und ich bin wirklich sehr erstaunt, dass meine Thesen bis heute nicht durch die rasante Entwicklung überholt worden sind. Im Gegenteil ist ihre Aktualität gerade durch jüngste Veröffentlichungen noch einmal bestätigt worden. Dennoch bleiben es Thesen, zum Teil provokativ zugespitzt.

Erste These:
Das Leseverhalten eines großen Teils der nachwachsenden Generation wird sich schneller und grundlegender ändern, als wir bisher angenommen haben

»Wir sind nicht nur, was wir lesen, wir sind, wie wir lesen.« So lautet ein Credo von Maryanne Wolf, der Direktorin des Center for Reading and Language Research in Medford (USA). Die intensive Nutzung moderner Formen der Kommunikation und Information verändert nach Ansicht vieler Forscher die Arbeitsweise unseres Gehirns und das Leseverhalten der Menschen. Insbesondere die Rezeption linearer Texte, das sogenannte deep reading, sieht sich offenbar zugunsten einer Dekodierung kurzer Informations- und Unterhaltungshappen einer schleichenden Verdrängung ausgesetzt.

Am deutlichsten ist dieses Phänomen bisher in Japan hervorgetreten. Dort veröffentlichte ein junger Tokioter unter dem Namen Yoshi im Jahr 2000 mit dem Titel Deep Love einen der ersten Handyromane, der ein sensationeller Erfolg wurde. Das erst danach gedruckte Buch verkaufte sich in einer Auflage von 2,7 Millionen Exemplaren und wurde mehrfach verfilmt.

Die japanische Jahresbestsellerliste aus dem Jahr 2007 führte unter den Top Ten fünf gedruckte Handyromane, von denen drei die ersten Plätze belegten. Von den gedruckten Versionen der Handyromane werden durchschnittlich 400000 Exemplare verkauft. Insgesamt setzt die Branche derzeit etwa 60 Millionen Euro pro Jahr mit Handyromanen und ihren Lizenzprodukten um. Für dieses Jahr wird ein Umsatz von 100 Millionen Euro prognostiziert. Längst werden Literaturpreise für Handyromane verliehen, um aus der Unzahl der Autorinnen und Autoren vielversprechende Nachwuchstalente zu filtern.

Nun hat dieses portionierte Lesen, vor allem aber die Informationsbeschaffung im Netz durch die Konsumption kleiner Häppchen, das Simsen und das Multitasking, also unser gesamtes Lese- und Kommunikationsverhalten im Netz, womöglich einen hohen Preis.

So erklärte der Neurobiologe Gerald Hüther im April 2009 in der Süddeutschen Zeitung, daß sich das Gehirn so entwickele, wie es genutzt werde, vor allem dann, wenn dabei große Begeisterung im Spiel sei. Zitat: »Wenn Jugendliche den ganzen Tag voller Eifer SMS-Botschaften verschicken, führt das dazu, daß im Gehirn aus den kleinen Wegen und Nervenverbindungen Straßen werden, auf denen genau dieser Prozeß immer flüssiger abläuft. Wir wissen, daß die Hirnregion, die den Daumen steuert, bei Jugendlichen in den vergangenen zehn Jahren viel größer geworden ist.«

Und in der FAZ vom 30. April 2010 zeigt sich der Neurobiologe Martin Korte darüber besorgt, dass neuere Erkenntnisse darauf hinweisen, dass die intensive Netznutzung und die Konsumption nur noch kleiner Häppchen zum Verlust von Konzentrationsfähigkeit und Sprachkompetenz führen könnte.

Andererseits war im letzten Jahr zu beobachten, dass mit David Foster Wallace, Uwe Tellkamp und Frank Schätzing mindestens drei Autoren mit sehr umfangreichen Büchern auf dem deutschen Markt höchst erfolgreich waren. Zu erinnern sei in diesem Zusammenhang auch an Joan K. Rowling und Cornelia Funke. Es scheint also eine Gegenbewegung gegen die Häppchenkultur zu geben, womöglich geradezu eine Empathie des Deep Reading. Doch es steht zu befürchten, dass dessen Klientel immer kleiner wird.

Zweite These:
Das gedruckte Buch ist nicht vom Aussterben bedroht, sondern von seiner Marginalisierung


Das klassische, also gedruckte Buch hat so viele Nutzervorteile, »daß es mindestens so überlebensfähig ist wie das Fahrrad seiner motorisierten Konkurrenz gegenüber.« Mit diesen Worten bemühte sich ein Verleger aus München unlängst, die Unersetzbarkeit des Buches zu begründen. Vergleiche dieser Art haben derzeit Konjunktur. Gern verweist man in unserer Branche auch darauf, daß das Radio schließlich sogar die Konkurrenz aller öffentlichen und privaten visuellen Medien, also Fernsehen und Film überlebt habe. Jeff Bezos, der Gründer von Amazon, blies ebenfalls in dieses Horn: »Physische Bücher werden nicht völlig verschwinden, so wie Pferde nicht völlig verschwunden sind.«


Spätestens an dieser Stelle sollte einem deutlich werden, was mit diesen Vergleichen tatsächlich ausgesagt wird. Das Fahrrad mag ja in der Freizeit vieler Menschen eine bedeutende Rolle spielen, für den Transport von Menschen und Gütern ist es in einer globalisierten Welt in jeder Hinsicht nur von untergeordneter Bedeutung.

Und welchen Einfluß auf die kulturelle Entwicklung der Menschheit hat das Radio angesichts der Übermacht der Bilder, die täglich von Fernsehanstalten, Hollywood und YouTube ausgestrahlt, abgespielt und angeklickt werden? Ähnliches gilt für das scheinbar wohlmeinende Bild, das Jeff Bezos in diesem Kontext für die Chancen des gedruckten Buches gezeichnet hat: In unserer Zeit der Auto- und Datenbahnen erscheint das Pferd nur noch als liebenswertes Überbleibsel einer längst verschwundenen Welt.

Wir sollten uns an dieser Stelle daran erinnern, daß es die Buchbranche selbst war, die ihr wichtigstes Arbeitsmittel, das Verzeichnis lieferbarer Bücher, von der gedruckten Ausgabe erst auf CD gebracht und schließlich Online gestellt hat, lange bevor von E-Books und E-Book-Readern die Rede war. Und ist nicht eines der wenigen wirklichen Markenprodukte unserer Branche, eine Marke mit enormer Kompetenz und Reichweite, kürzlich durch das Netz verdrängt worden? Ich meine hier natürlich den Brockhaus, der im Vergleich mit Wikipedia den Kürzeren gezogen hat.

Ich glaube wie gesagt dennoch, daß das gedruckte Buch überleben wird, als prachtvoller Bildband über Kunst, Architektur oder Fotografie, als liebevoll gestaltetes Kinder- und Jugendbuch, literarische Belletristik und als qualitativ hochwertiges Sachbuch. Aber wie sieht die Zukunft von Ratgebern und Wörterbüchern, von Literatur für Hobby und Freizeit, von Schulbüchern und Unterhaltungsliteratur aus – von der wissenschaftlichen Literatur ganz zu schweigen? Inzwischen glaubt wohl niemand ernsthaft, mit gedruckten Ausgaben dieser Warengruppen zukünftig noch nennenswerte Umsätze erzielen zu können.

Auf Reisen brauche ich keine Landkarte, keinen Stadtplan, keinen Reiseführer und kein Wörterbuch mehr. Wie beschneide ich Rosen, wann setze ich Tulpenzwiebeln? Appetit auf Saltimbocca alla romana? Museen für Kinder in Düsseldorf? Ein Blick ins Internet genügt. Ob uns das gefällt, ist eine so müßige Frage wie die, ob uns ein Erdbeben oder die Globalisierung gefällt. »Ist der Geist aus der Flasche«, schrieb Jürgen Neffe in der Zeit vom 23. April 2009, »kehrt er nicht mehr dorthin zurück. Kommende Generationen werden kaum glauben, daß er je hineingepaßt hat.«

Immer wieder wird in den Medien und auch in unserer Branche die Vermutung geäußert, daß »das Buch als Leitmedium abgelöst wird.« Angesichts der Vielfalt der Medien und ihrer Nutzung befürchte ich, daß das gedruckte Buch seine Funktion als Leitmedium schon längst eingebüßt hat. Durch die fortschreitende Digitalisierung verlagsgenerierter Inhalte wird die Bedeutung gedruckter Bücher (und damit der Umsatz mit ihnen) weiter schwinden. Deshalb bin ich der Meinung, daß das gedruckte Buch zwar nicht vom Aussterben, wohl aber von seiner Marginalisierung bedroht ist.

Dritte These:
Das E-Book wird sich schneller verändern, als jedes andere neue Medienformat in der Geschichte der Buchkultur


Der legendäre Gründer und Herausgeber der New York Review of Books, Robert Silvers, sagte vor knapp zwei Jahren in einem Interview diesen Satz: »Ein Buch in der Hand zu halten ist so charmant, so angenehm. Aber die nach uns kommen, werden dieses Gefühl nicht vermissen.« Zitatende. Die nach uns kommen, muß man wohl heute ergänzen, sind bereits da.

Es wachsen Menschen heran, denen Buch eine ähnliche Metapher sein könnte, wie uns die Feder der Autoren. Weiter ist damit zu rechnen, daß es in absehbarer Zeit mehr und mehr Titel geben wird, die nur noch digital erscheinen. Ein Höhepunkt der Medienrevolution wäre schließlich dann erreicht, wenn die ersten E-Books in den Bestsellerlisten auftauchen. Doch bis dahin wird noch allerhand geschehen. Bespielsweise wird sich das E-Book recht schnell von seinem gedruckten Vorbild emanzipieren. Die Drucker der Gutenbergzeit haben Jahrzehnte gebraucht, bis sie die technischen Möglichkeiten des neuen Mediums erkannten und nutzten. Erst dann führten sie das Titelblatt, die Seitenzählung, den einfarbigen und den Farbholzschnitt in die Drucktechnik ein. Dieser Prozeß wird sich beim E-Book blitzschnell vollziehen.

Mit weiterführenden Text- und Bilddokumenten, Weblinks, Videosequenzen und Audiopassagen werden die E-Books alle derzeit denkbaren technischen Möglichkeiten eines elektronischen Buches nutzen.
Doch diese konventionellen Tools sind erst der Anfang. Das E-Book wird sich zu einem Produkt mit viel umfangreicherer Komplexität, Kapazität und Funktionalität entwickeln. Internetgestützte E-Books werden zu Blogs, man wird in Anmerkungen anderer Leser blättern können. Vielleicht werden auch statistische Informationen zur Verfügung gestellt: Wie oft angeklickt? Wie oft gekauft? Wie oft von einer Online-Bibliothek ausgeliehen? Wir werden bald beobachten können, wie sich das E-Book von seiner heutigen Gestalt entfernt und seine technischen Möglichkeiten ausschöpft.

Vierte These:
Der Buchhandel hat sich mit dem größten Strukturwandel seiner jüngeren Geschichte auseinanderzusetzen.


Die grösste Strukturkrise des  Buchhandels setzte mit dem Untergang des römischen Reiches ein und endete erst mit der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg. Fast eintausend Jahre existierte faktisch kein Buchhandel mehr. Die Vielfalt des antiken Buchhandels war in den Wirren der frühmittelalterlichen Umbrüche zerrieben worden und die Buchkultur verschwand aus dem öffentlichen Bewußtsein hinter den Mauern der christlichen Klöster.

Eine so radikale Krise des Buchhandels ist nicht zu erwarten, wohl aber ein Strukturwandel, der die uns bekannte Welt des Buchhandels gründlich verändern wird.

1998 setzte der Versandbuchhandel bescheidene 30 Millionen Euro im Internet um. Zehn Jahre später durchbrach der Internet-Handel mit Büchern erstmals eine lange Zeit undenkbare Schallmauer: etwa 1,03 Millarden Euro gaben die Kunden 2008 für ihre Bucheinkäufe im Netz aus. Während der Versandbuchhandel 2003 noch einen Anteil von 9,4% vom Gesamtumsatz des Buchhandels erwirtschaftete, konnte er sich fünf Jahre später bereits 14% sichern.

In den letzten vier Jahren ist der Handel mit Büchern im Internet um durchschnittlich knapp 20% pro Jahr gewachsen. Wenn man dieses Wachstum auch für die nächsten vier Jahre annimmt, würde der Internethandel mit Büchern im Jahr 2012 etwa 2,8 Milliarden Euro umsetzen und dem Versandbuchhandel einen Anteil von 29% vom gesamten Umsatz mit Büchern bescheren. Und neue Produkte werden zur weiteren Verschlechterung der Erlöse des stationären Buchhandels beitragen.

Mit den neuen Produkten meine ich die im Frühjahr 2009 in Deutschland eingeführten E-Book-Reader und die E-Books selbst. Wenn sich meine Vermutungen bewahrheiten, wird der Verkauf von E-Book-Readern und E-Books kein nennenswertes Geschäft für den Buchhandel. Kein Mensch kann heute sagen, wie sich der deutsche E-Book-Markt in den nächsten Jahren entwickeln wird. Es ist aber davon auszugehen, daß dieser Markt dem Sortimentsbuchhandel weitere Umsätze in nennenswerter Höhe entziehen wird.

»Digitaler Content wird in Zukunft nicht mehr buchbezogen vertrieben, sondern in Bundles oder individuellen Kompilationen. Für die Verleger und Buchhändler kommt es darauf an, Geschäftsmodelle zu entwickeln, die mit den bisherigen, auf Einzeltitel bezogenen Vorstellungen nicht mehr viel zu tun hätten.« Diese Einschätzung des Londoner Sony-BMG-Managers Gerhard Blum war bereits im Winter 2008 im Börsenblatt nachzulesen. Schon heute findet diese neue Form des Content-Erwerbs täglich millionenfach statt, und zwar kostenlos im Internet. Kochrezepte, Gartentips und Reiseziele – das Internet substituiert inzwischen einen erheblichen Teil der klassischen Hobby-, Freizeit- und Reiseliteratur.

Der Weltbild-Chef Carel Halff hat dem Buchreport in der letzten Woche ein bemerkenswertes Interview gegeben, auf das ich hier kurz eingehen möchte. Im Kern formuliert Carel Halff in seinem Interview drei Vermutungen:

1. Es ist nicht das E-Book, sondern der Versandbuchhandel mit klassischen Medien, der die Buchhandelslandschaft umpflügen wird.
2. E-Book-Reader (und somit E-Books) werden mittelfristig eine Randerscheinung bleiben.
3. Der Internet-Versandbuchhandel reklamiert schon jetzt einen Anteil von 30% vom Gesamtumsatz mit Büchern und er wird wachsen. Dazu ein Zitat: »In den kommenden fünf Jahren werden bis zu 40% der Buchflächen im stationären Handel aufgegeben, sei es durch Geschäftsaufgabe oder durch Aufnahme von Non-Book-Sortimenten.«

Ich glaube, dass Carel Halff sich in Bezug auf das E-Book täuscht. In Amerika könnte nach seriösen Schätzungen der Handel mit E-Books in diesem Jahr schon die 10%-Marke erreichen. Und wir haben schon bei den Hörbüchern gesehen, dass die Verkaufstendenzen in Amerika den deutschen Markt  – zwar mit einer gewissen Verzögerung – dann aber doch erreichen. Das wird beim E-Book meiner Meinung nach nicht anders sein.

Ich verstehe auch nicht, wie Carel Halff auf einen gegenwärtigen Anteil des Online-Buchhandels von 30% vom Gesamtumsatz kommt. Buch und Buchhandel in Zahlen kommt für das Jahr 2008 (die Zahlen von 2009 bekommen wir erst in einem Monat) auf einen Anteil des Versandhandels von 14%. Das entspricht einem Anteils des Internethandels mit Büchern in Höhe von 1,02 Milliarden Euro.

Ich halte aber, wie vorhin angedeutet, einen Anteil von 30% und mehr in ein paar Jahren durchaus für möglich, ja sogar wahrscheinlich. Ich glaube auch, dass der von Carel Halff geschätzte Rückgang buchhändlerisch genutzter Verkaufsfläche um 40% in fünf Jahren zu hoch gegriffen ist. Meine Vermutung liegt eher bei 30%. Aber wer von uns hier auch immer Recht behalten wird: Die Auswirkungen des Online-Buchandels auf die Zahl der Buchhandlungen in Deutschland waren drastisch und sie werden es bleiben. Dazu noch ein paar Zahlen.

Anfang 2009 zählte der Börsenverein 3.953 Mitglieder aus dem Sortiment. Genau zehn Jahre zuvor waren es noch 4.847 Mitglieder. Der Verein hat also in zehn Jahren 18,5% seiner Buchhandlungen verloren; dies geschah nicht, weil die Mitglieder aus Unzufriedenheit ausgetreten sind, sondern weil sie nicht mehr existieren. Der Verdrängungswettbewerb der Filialisten (der nun vermutlich an seine Grenzen gestoßen ist) und das Abwandern von Umsätzen in den Internet-Buchhandel hat in zehn Jahren fast 900 buchhändlerische Unternehmen vom Markt verdrängt.

Es wird viel Phantasie und Tatkraft aufgebracht werden müssen, um den Strukturwandel zu bewältigen, in dem sich der stationäre Buchhandel befindet.

Fünfte These:
Wer die Möglichkeiten des Web 2.0 nicht nutzt, verabschiedet sich erst aus der virtuellen und letztlich aus der analogen Welt – also vom Markt


Noch vor einem Jahr haben die allermeisten unserer Kolleginnen und Kollegen über soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter die Nase gerümpft. Das wäre doch eine weitgehend zweckfreie Kommunikationsform am Rande des Analphabetismus. Heute wächst die Zahl der Buchhandlungen und Verlage, die diese beiden Netzwerken nutzen, tagtäglich. Warum? Weil ihre Kunden dort zu finden sind. Allein Facebook hat in Deutschland derzeit über acht Millionen Mitglieder. Und ob die relevanten sozialen Netzwerke morgen immer noch Twitter oder Facebook heißen werden ist völlig egal.

Viel wichtiger ist die Tatsache, dass sich im Web 2.0 eine völlig neue Form der Kommunikation entwickelt hat, die Bestand haben wird.

Erinnern wir uns, wie das Fax und die E-Mail zunächst beargwöhnt wurden, und wie sich diese beiden Kommunikationsformen schließlich doch flächendeckend durchgesetzt haben. (Genauer gesagt hat die Mail das Fax inzwischen weitgehend verdrängt.)

Nicht anders wird es sich mit den sozialen Netzwerken verhalten. Sie haben sich bei einer ständig wachsende Zahl von Menschen einen festen Platz im täglichen Kommunikationsverhalten erobert. Und wer diese Form der Kommunikation ignoriert, wird es bald spüren.


Zum Ende meines Vortrages möchte ich, nachdem ich vielleicht den einen oder anderen von Ihnen mit meinen Ausführungen erschreckt oder aufgeschreckt habe, einen Abschlußgedanken formulieren, der vielleicht einen tröstlichen Gesichtspunkt beinhaltet.

Unsere Branche hat in ihrer sehr langen und medienrevolutionsreichen Geschichte schon Krisen gemeistert, die größer waren als der Wandel, in dem wir stehen und der uns noch bevorsteht. Die Branche hat sich immer wieder neu definiert, neue Geschäftsmodelle und Unternehmensstrukturen entwickelt. Es haben zwar nicht alle Unternehmen die Zeiten des Wandels überlebt, dafür sind andere gegründet worden.

Vor allem aber verfügen wir über einen immensen Erfahrungsschatz, auf den wir trotz aller Hektik im Alltagsgeschäft in Muße zurückgreifen sollten. Denn unsere Branche, ich sage das hier im frommen Bonn, ist wesentlich älter als die Katholische Kirche."