Meinung: Trendbücher

Am eigenen Leib spüren

12. Mai 2010
Redaktion Börsenblatt
Der Selbstversuch zum Buch. Rainer Moritz über ein florierendes Genre.

Wir alle hätten es gern authentisch. Menschen, die authentisch und unverstellt wirken, kommen gut an und wie unsere Lena Meyer-Landrut zu Mehrfachchartsplatzierungen. Selbst Politiker haben erkannt, dass sie "echt" wirken müssen, um zu punkten – so wie Hannelore Kraft aus Nordrhein-Westfalen, die mit ungebremster Ruhrpottjovialität mit den Leuten Tacheles redet. Kontrahent Rüttgers kam da nicht hinterher; wenn man fürs Tête-à-Tête gern Spenden einsammeln würde, gilt das als unauthentisch.
Und weil wir nicht mehr glauben, was uns Wissenschaftler oder Fernsehfritzen erzählen, und weil wir Erfahrungen nicht mehr aus dritter oder vierter Hand machen wollen, grassiert neuerdings der Hang zum Selbstversuch. Endlich nicht mehr rumlabern, endlich keine erfahrungsarmen Theorien nachbeten und endlich den intimen Bekenntnissen in Nachmittagstalkshows misstrauen – das ist der neue Trend, und wo ein neuer Trend, da lassen die Trendbücher nicht lange auf sich warten.

Der Journalist Jürgen Schmieder hat dabei den größten Coup gelandet. Mit seinem Bestseller "Du sollst nicht lügen. Von einem, der auszog, ehrlich zu sein" erinnert er uns an Diskussionen um Kants kategorischen Imperativ und fragt in einer Gesellschaft, wo Korruption, Manipulation und Betrug auf der Tagesordnung stehen, wie weit man mit schonungsloser Ehrlichkeit kommt.

Auf ethisch weniger relevantes Terrain begeben sich demnächst die Journalisten Alex Rühle und Christoph Koch, die uns von einer ganz neuen Abhängigkeit befreien wollen. "Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline" und "Ich bin dann mal offline. Ein Selbstversuch" heißen ihre für den Herbst angekündigten Bücher, die zeigen, wie man sich in einer problem­beladenen Welt mühelos immer neue Probleme schaffen kann.

Und auch die Romanautorin Karen Duve wollte da nicht zurückstehen und ihren Körper persönlichen Erfahrungen aussetzen. Für ihr Buch "Wie ich versuchte, ein besserer Mensch zu werden" wagt sie es, sich je zwei Monate lang biologisch dynamisch, vegetarisch, vegan oder frutarisch zu ernähren.

Ob das dem Wesen und dem Stil der erklärten Liebhaberin von Grillhähnchen-Pfannen bekommt, werden wir bald nachlesen können. Und gab und gibt es nicht ähnlich klingende Werke, die "Arm, aber Bio! Mit wenig Geld gesund, ökologisch und genussvoll speisen. Ein Selbstversuch", "Wir sind jung und brauchen das Geld. Ein Selbstversuch", "Ich schäme mich. Ein Selbstversuch" oder "No Shopping. Ein Selbstversuch" heißen?
Bald, darauf muss man sich einstellen, wird es keine Fantasy-Romane, schwedischen Krimis und Jakobswegbegehungen mehr geben – stattdessen Selbstversuche über Selbstversuche. Ich selbst lehne das ab, werde auch künftig nicht erproben, ob ich ohne die "Lindenstraße", schweren Rotwein und die Bundesliga auskomme.

Mir ist das alles ohnehin zu wenig radikal. Denken Sie nur an Walter Kempowski, der sich für "Bloomsday ’97" einen Tag lang knapp 40 Fernsehprogramme non-stop zu Gemüte führte, oder an Christa Wolfs Erzählung "Selbstversuch" (1973), wo es um das wissenschaftliche Experiment einer Geschlechtsumwandlung geht. Das sind wirklich Erfahrungen am eigenen Leib. Wenn schon, denn schon.