Friedenspreisträger Claudio Magris und Adam Krzeminski diskutierten in Brüssel über Europa

Der Kanon als Kanone

2. Juni 2010
von Börsenblatt
Zum zweiten Mal war der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zu Gast in Brüssel, in der Stadt, in der das Projekt Europa politisch in Arbeit ist. „Europa – Utopie und Realität“ stand denn auch als Thema über dem Diskussionsabend im dortigen Goethe-Institut. Mehr als 300 Zuhörer waren der Einladung des Börsenvereins gefolgt, darunter die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Viviane Reding.

Das politische Brüssel wollte also wissen, wie Friedenspreisträger Claudio Magris, der grenzerfahrene Italiener aus Triest, und Adam Krzeminski, der „Polityka“-Redakteur und ostmitteleuropäische Intellektuelle, unter kundiger Moderation der seit je international-europäisch orientierten Kulturjournalistin Maike Albath über Europas Gegenwart und Zukunft denken. Für manchen überraschend: Viel Zuversicht und Begeisterung war im Spiel an diesem Abend in der Rue Belliard – und ein Schuss, sagen wir, vernünftige Utopie.

Magris machte zunächst die Alternativlosigkeit europäischen Denkens in Politik, Wirtschaft und Kultur deutlich. „Es kann heute nichts Wichtiges mehr passieren, das etwa nur Deutschland oder nur Italien beträfe.“ In den Systemen sei Europa längst keine Utopie mehr, sondern hoch vernetzte Realität.

Der Pole Krzeminski wendete die gegenwärtige europäische Krise aus dem Bedrohlichen ins Chancenreiche: „Wir erleben so etwas wie den dritten Gründungstag der Europäischen Union. Heute erfährt die Generation der nach 1980 Geborenen, dass Europas Probleme – gegenwärtig etwa die Überschuldung Griechenlands – immer auch ihre eigenen Probleme sind.“ Allen beklagenswerten Rückfällen in alte nationale Klischees zum Trotz: „Man findet sich in Europa in mehr oder weniger kommunizierenden Röhren wieder“, so Krzeminski.

Mit Blick auf die „vielen europäischen Wirklichkeiten“ fragte Maike Albath, ob „wir unsere Sprechweise über Europa ändern müssen“. Magris mahnte daraufhin an, das Gedächtnis und die Erinnerung an die schrecklichen Kapitel europäischer Geschichte insbesondere im 20. Jahrhundert in einer Weise zu pflegen, „dass nicht Ressentiment daraus wird, sondern ein Gefühl der Brüderlichkeit“. Der Journalist Krzeminski stimmte zu: Wichtig sei eine europäische Überwölbung der vielen nationalen Identitäten: „Wir sollten uns in den Augen der anderen sehen lernen. Einen Wettlauf der Opfer brauchen wir nicht.“

Auch gemeinsame Scham und Schuld beim Blick auf die eigene Geschichte könne identitätsbildend wirken. „Wir sind doch alle gewesene Großmächte oder Möchte-gern-Großmächte, allesamt auch Gescheiterte“, sagte Krzeminski. Und Magris pflichtete in seinen Worten bei: „Wir alle in Europa haben Leichen im Keller.“

Sprachkenntnis und Bildung sind für Krzeminski besonders wichtige gemeinschaftsstiftende Faktoren in Europa – um die es allerdings nicht gut genug bestellt sei. „Wir pflegen alle unsere nationalen Kanons, manchmal denke ich: Kanonen. Was uns dabei zunehmend fehlt, ist die Vernetzung, die Kenntnis der anderen. Wir müssen raus aus diesen Bildungsmodellen des 19. Jahrhunderts.“

Der am Phänomen Berlusconi geschulte (und leidende) Italiener Magris sieht einen Teil der Bildungskatastrophe in einer erstarkenden „Kultur der Abkapselung“, die von den Populisten betrieben werde. In Wahrheit kämen „Karikaturen der eigenen Tradition“ dabei heraus, klagte der Germanist. Sein Gegenentwurf, der die Vielfalt verteidigt, ist ein „vereintes Europa, dezentral und föderal zwar, aber mit einer Gesetzgebung aus einer Hand. „Nur so können wir die Rolle der vielen Kleinen vor den ökonomischen Machtspielen in Schutz nehmen.“

Visionen – näher am Utopischen als an der Wirklichkeit? Magris will von verzagter Skepsis nichts wissen. „Das Problem, auch von uns Intellektuellen, ist: Wir können nicht glauben, dass die Realität sich ändern kann. Das kann sie aber.“ Der Fall der Mauer, den viele auch politisch Aktive noch wenige Tage vor seinem Eintreten für unmöglich gehalten hätten, sei das beste Beispiel dafür. Magris folgerte: „Was wir brauchen, sind rationale Utopisten.“

Da wollte Krzeminski seine rationale Utopie nicht schuldig bleiben: „Ich wünschte mir, dass jedes europäische Kind – und komme es aus irgendeinem kleinen Kaff in Ostpolen – für ein Jahr im Ausland zur Schule geht, in einem anderen europäischen Sprachraum. Meine Utopie ist, dass wir dafür Geld ausgeben statt für eine hoch subventionierte gemeinsame Agrarwirtschaft.“

Nach mehr als zwei Stunden Debatte und lebendiger Diskussion endete der Abend im Goethe-Institut mit der freundlichen Einladung des Gastgebers an den Börsenverein: „Der Friedenspreis muss nächstes wieder hier bei uns sein“, fand Institutsleiter Berthold Franke; Brüssel sei „ein logischer Ort“ für die Themen dieses Preises.

 

Torsten Casimir