"Seine Liebe zur Literatur wird nur von der Leidenschaft, sie zu kritisieren, übertroffen", sagte Michael A. Gotthelf, der Vorsitzende des Vorstands der Ludwig-Börne-Stiftung bei seiner Begrüßung.
Eigentlich hätte er ja eine Rede auf 50 bis 60 Seiten für heute vorbereitet, eröffnete Harald Schmidt den Reigen der Laudatoren. Aber dann habe er heute morgen kurz nach halb neun die Nachricht gelesen, wonach die Brecht-Stiftung ein Gedicht mit Handreichungen für Laudatoren entdeckt habe, in dem es heißt: "Du aber Laudator fasse dich kurz, vor allem, wenn nach dir noch drei Redner kommen und das an einem Tag, an dem über 30 Grad im Schatten zu erwarten sind." Statt mit einer Laudatio gratulierte Schmidt unter diesen Umständen dann lieber mit dem Brecht-Gedicht "Erinnerung an die Marie A.", das er mit Klavierbegleitung zum Besten gab.
"Lieber Marcel, ich lasse mir diese persönliche Anrede auf der Zunge zergehen, denn ich genieße die Schmerzen, die der eine oder andere Kulturschaffende gerade empfindet, weil ich heute, auf Deinen Wunsch hin, hier als Vertreter derer sprechen darf, die bei Müller an Fußball oder Milch denken, aber nicht an den Literatur-Nobelpreis“, mit diesen Worten eröffnete Thomas Gottschalk seine Laudatio auf seinen Freund Reich-Ranicki. „Du hast sozusagen den Deutschen Fernsehpreis abgelehnt und mich gleichzeitig angenommen, was Du inzwischen bereut haben magst, aber nun ist es zu spät: Hier stehe ich und kann nicht anders, als mit Freude festzustellen, dass Du Dir mit fortschreitendem Alter eine zunehmende Beschwingtheit gönnst. Zu Deinem Fünfundachtzigsten musste ich als Redner noch gegen Frank Schirrmacher und Richard von Weizsäcker antreten. Heute sind wir mit Henryk Broder schon zwei Unterhalter und den Schirrmacher werden wir bis zu Deinem Fünfundneunzigsten auch noch los. ... Du bist ein begnadeter Entertainer, ob du es sein willst oder nicht."
"Wenn man Worte in Honig verwandeln könnte, müssten wir alle mit klebrigen Fingern hier sitzen. Wir, die Konditoren des Kulturbetriebs, die wir heute den 90. Geburtstag unseres Ober-Konditors feiern", sagte Henry M. Broder in seiner Laudatio, in der er Reich-Ranicki aufforderte, sich vehementer für Israel einzusetzen. Hier ein Ausschnitt aus der Laudatio: Dass Sie ein "Papst" sind, das wissen wir schon lange, was vor allem diejenigen unter uns mit Genugtuung erfüllt, die stolz darauf sind, dass auch Jesus ein Jude war. Nun aber werden Sie zu Lebzeiten heiliggesprochen, und tatsächlich - wenn man genau hinguckt, sieht man einen leuchtenden Kreis über ihrem Haupt. So ist das eben, wenn man lange genug durchhält, wird von man von einem "bad boy" zu "everybody's darling" befördert. ... Ich erinnere mich an einen wunderbaren Satz von Ihnen, den Sie gesagt haben, als Sie um Ihre Meinung über den Film "Der Untergang" gefragt wurden, speziell darüber, ob es richtig wäre, Hitler nicht als Monster, sondern als einen Menschen zu zeigen. "Natürlich war Hitler ein Mensch", polterten Sie zurück, "was soll er denn sonst gewesen sein, etwa ein Elefant?"
Das sind Momente, in denen man aufspringen und Sie umarmen möchte, wohl wissend, dass Sie solche Sympathiekundgebungen nicht mögen. Und während ich hier, vor Kühnheit zitternd, vor Ihnen stehe und um die richtigen Worte ringe, sind Sie vermutlich schon weiter und überlegen, wie Sie diese Veranstaltung verreißen würden - wenn Sie nicht ihr Objekt wären. Also lassen Sie mich schnell sagen, warum ich Sie verehre: weil Sie zwar ein Papst, aber wie alle Menschen fehlbar sind
....
Lieber, verehrter Jubilar: Noch immer vor Kühnheit zitternd, möchte ich Sie etwas fragen. Sie waren doch im Warschauer Ghetto. Sie haben in Ihren Erinnerungen beschrieben, wie es in diesem Vorzimmer zur Hölle zuging. Sie haben bei Ihren Lesungen die Menschen zu Tränen gerührt. Bekommen Sie nicht eine Gänsehaut, wenn im Zusammenhang mit den Lebensbedingungen in Gaza von "Zuständen wie im Warschauer Ghetto" geredet wird? Packt Sie da nicht die Wut und das Verlangen, Ihr Zuhause in der deutschen Literatur für einen Moment zu verlassen und sich draußen auf der Straße umzusehen, wo nicht die Freunde von Heine und Hölderlin unter den Linden flanieren, sondern die Anhänger von Hamas und Hisbollah "Zionisten raus aus Palästina" rufen? Klingt das in Ihren Ohren nicht so wie "Juden raus nach Palästina!" - nur eben andersrum?
Frank Schirrmacher plauderte aus dem beruflichen Nähkästchen und berichtete darüber, wie Marcel Reich-Ranicki mit einer "von Zischen beherrschten Lautkulisse" bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" Texte redigierte. "Seine Körpersprache schien zu sagen, du hast mir hier einen Klumpen Lehm geliefert und ich versuche nun etwas Lebendiges daraus zu machen." Kurze Telefonate mit Reich-Ranicki würden nicht selten zu einem "atemlosen Thriller" mit Sätzen wie "Sie wissen nicht was sich abspielt", so Schirrmacher.
Dann kam Marcel Reich-Ranicki nach vorne, setzte sich langsam hin, klappte die ihm zuvor überreichte Medaillen-Schatulle auf, schaute kurz hinein, steckte die Schatulle in die Sakkotasche und sprach: "Ich habe keine Rede vorbereitet. Ich sehe es nicht als eine Notwendigkeit an, derartiges zu tun." Er habe das getan, was ihm im Leben Spaß gemacht habe, nämlich die Literatur einem breiten Publikum nahezubringen, sagte der Jubilar, der vor vier Tagen seinen 90. Geburtstag feierte.
Und Spaß hat auch diese kurzweilige Veranstaltung gemacht, die Entertainment, Literatur und Politik zusammenbrachte.