Kommentar

Buchtage Berlin: "Wenn zu perfekt, liebe Gott böse"

17. Juni 2010
von Börsenblatt
"Hitzig waren in Berlin allein die Temperaturen, nicht die Temperamente." Ein Kommentar von Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir.
Die Verbandsmaschine läuft rund. Die geordneten Finanzen des Börsenvereins wurden transparent und präzise referiert. Fragen dazu? Keine. Der Verkauf der BAG am Ende verlustreicher Jahre erschien der Hauptversammlung einhellig als gute Lösung – Hoffnung auf verbesserte Produkte inklusive. Gegenstimmen? Keine. Der Umzug der Frankfurter Zentrale vom maroden Hirschgraben in die Braubachstraße läuft überplanmäßig gut und mit beruhigendem Sicherheitsabstand zu den Worst-Case-Szenarien des vergangenen Jahres. Sorgen und Einwände? Keine. Der alte Vorstand ist der neue Vorstand, zuzüglich des Zwischenbuchhändlers Thomas Gruß. Vertrauensverlust? Im Gegenteil, weitgehend Vertrauensvotum.
Alles gut also?

Ja, alles gut. Und genau das ist das Problem. Hitzig waren in Berlin 2010 allein die Temperaturen, nicht die Temperamente. Ein Haupt- und Ehrenamt in Hochform verbreitete den (im Übrigen zutreffenden) Eindruck, man habe die Dinge im Griff. Keine Information, die fehlte; kein Redner, dem man mehr Vorbereitung gewünscht hätte; kein Vorschlag, dem zu widersprechen erforderlich gewesen wäre. Der koreanische Videokünstler Nam June Paik hat seine Schüler einst vor einem Übermaß an Glanz und Gloria gewarnt: "Wenn zu perfekt, liebe Gott böse!" Die Variante für Verbände lautet: Wenn zu perfekt, Mitglied stumm.
Ein Luxusproblem? Das mag der konstatieren, dem Ruhe sympathischer ist als Lebendigkeit. Andere machen sich Gedanken über die Bindungskräfte, die eine Organisation noch entfaltet, wenn ihr Selbst­gespräch verebbt. Neben den Märkten von morgen, die verstanden und erobert werden wollen; neben den politischen Fragen­ nach den künftigen Bedingungen für den Buchhandel; neben den Aufgaben, die techni­scher Wandel der Branche stellt; – neben all den als dringlich empfundenen Herausforderungen werden die nächsten Jahre dem Börsenverein eine Beschäftigung mit seiner inneren Verfassung abverlangen.

Im Klartext: Warum ist die größte Mitgliedergruppe, das Sortiment, auf dem jährlichen Zentraltreffen so beschämend unterrepräsentiert? Könnte es sein, dass die Antwort "Die kommen werktags schlecht aus ihrem Laden raus" vor allem geeignet ist, sich die Diskussion anderer (beunruhigenderer) Gründe vom Hals zu halten –, und deshalb gern gegeben wird? Was fehlt zum Zugehörigkeitsgefühl? Was fehlt zum Drei-Sparten-Wir? Wie viele Verleger haben in der Kulturbrauerei abends ihr Bier mit einem Buchhändler getrunken? Und blieben nicht auch diese (wenigen) lieber unter ihresgleichen?
Die Solidarität selbst innerhalb eines 185 Jahre alten Drei-Sparten-Verbands muss von Zeit zu Zeit neu begründet werden, damit sie in Zukunft Bestand behält – zumal mit Blick auf die neuen, gar nicht mehr den klassischen Sparten­ zurechenbaren Marktteilnehmer, die die Vielfalt der Arten in den kommenden Jahren erhöhen werden. Der Börsenverein arbeitet professioneller denn je – und rückt doch einem Teil seiner Mitglieder ferner. Man könnte das einen Kollateralschaden nennen. Der neue alte Vorstand und das Hauptamt werden zu tun haben, den auf ein unschädliches Maß zu begrenzen.