Meinung: Fußball

Das heimliche Auge

1. Juli 2010
Redaktion Börsenblatt
Die Fußball-Weltmeisterschaft und der Arbeitsalltag. Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses in Hamburg und Autor diverser Fußballgeschichten, über schwache Momente.
Immer wieder liest man davon, dass ein Ereignis wie die Fußball-Weltmeisterschaft eine Nation oder sogar einen Kontinent gewaltig voranbringen könne. Wo plötzlich "Sommermärchen" erzählt werden, lassen sich die Menschen von öden Themen wie Staatsverschuldung, Afghanistan-Krieg oder Guido Westerwelle ablenken und kommen selbst über den Tod von Heidi Kabel hinweg.

Andererseits … wenn es mit dem Toreschießen nicht klappt und alternde französische und italienische Profis ihre Nationen der Lächerlichkeit preisgeben, kursiert schnell die Rede von der »Staatskrise« und kollektiver Depression. Wahrscheinlich sinkt das Bruttosozialprodukt in Rom und Paris in Kürze, und wir müssen nicht nur den Griechen Europakete schicken. Doch halt … vielleicht sind diejenigen, die weiterkommen, noch stärker geschwächt …

Lassen Sie mich ehrlich sein: Meine Produktivität ist seit dem WM-Anpfiff nicht gestiegen. Es geht mir wie bei der Romanlektüre. Sobald ich eines neuen Buches ansichtig werde, regt sich in mir die irrationale Hoffnung, dass mich ausgerechnet dieses Werk wie kein anderes zuvor begeistern werde.

Nicht anders beim Fußball: Verzichtbar ist eigentlich keines der zahllosen WM-Spiele, denn gerade in jenem scheinbar unbedeutenden Vorrundenspiel zweier Underdogs könnte sich ja das unermesslich Schöne ereignen, könnten herrliche Flankenwechsel und geniale Doppelpässe für die ersehnten ästhetischen Wunder sorgen. Und wer möchte hinterher zugeben, eine solche Rasenepiphanie verpasst zu haben?

Ich nicht. Und deshalb mühe ich mich seit dem 11. Juni redlich, kein Match zu versäumen. In meinem Büro steht zum Glück seit Jahren ein halbwegs funktionstüchtiges Fernsehgerät, das zu meinem liebsten Freund geworden ist. Ein Glück nur, dass die Vorrunde hinter uns liegt und ich nicht mehr gezwungen bin, schon um 13.30 Uhr alle beruflichen Verpflichtungen hintanzustellen. Wenn der Ball erst einmal rollt, bin ich nicht mehr ansprechbar. Ich gehe nicht mehr ans Telefon (selbst wenn Mutters Nummer im Display aufleuchtet), verbarrikadiere meine Bürotüre, fauche meine Mitarbeiter an, wenn sie es trotzdem wagen, selbige zu öffnen, und komme nur zu leichtesten Arbeiten (Bücher von links nach rechts bewegen, Taxiquittungen abheften, Brille putzen ...).

Mein heimliches Auge ruht permanent auf dem TV-Gerät – ohne Scham und Scheu. Progressive Arbeitgeber wissen, dass nur zufriedene Arbeitnehmer gute Arbeitnehmer sind, und wie soll es ein Fußballanhänger aushalten, Remissionsquoten zu errechnen, während Italien gegen die Slowakei spielt? Ich bin mir sicher, mit meiner Schwäche nicht allein zu sein. Wie viele harmlos wirkende Buchhändler verkürzen derzeit Verkaufsgespräche, weil sie nur danach trachten, in die hinteren Räume zu enteilen, zum Bildschirm?
Und dennoch frage ich mich mitunter, nach dem dritten torlosen Unentschieden etwa, ob ich Deutschland damit nicht schade und verantwortungslos Wolfgang Schäubles Kasse schwäche. Eine komplizierte Sache, dieser Zusammenhang von TV-Sucht und Wirtschaftswachstum. Womöglich müssen uns bald die früh gescheiterten Griechen oder Slowenen unter die Arme greifen. Gerade, da ich dies schreibe, steht es übrigens 0:0 zwischen Brasilien und Portugal.