Das Internet-Phänomen "Bookcrossing" – moderne Bibliophilie oder Marketing-Instrument für den Buchhandel?

1. Juli 2010
Redaktion Börsenblatt
Es ist längst allgemein bekannt, dass sich Buch- und Internetnutzung nicht gegenseitig ausschließen, sondern sich komplementär zueinander verhalten. Ein Konzept, die beide Medien verbindet, ist Bookcrossing. Eine Überlegung von Julia Heiserholt

Sogenannte Vielleser konsumieren Online- wie Printmedien gleichermaßen. Diese können schon lange nicht mehr als Gegenpole gesehen werden. Das Phänomen Bookcrossing ist eine besondere Form der Verbindung von Büchern und Internet. Hier werden weltweit Bücher privat ausgetauscht, indem sie online registriert und dann in der Öffentlichkeit „ausgesetzt“ werden. Buchhandlungen und Verlage machen sich dieses Konzept, das mittlerweile eine globale Bewegung ist, bereits zunutze. Was steckt hinter „Bookcrossing“ und welche Potentiale bietet es für die Branche?

 

 

Im engen Sinne bezeichnet „Bookcrossing“ die Praxis des „Freilassens“ oder „Aussetzens“ von (bevorzugt belletristischen) Büchern. Dabei wird ein Buch auf www.bookcrossing.com registriert und erhält eine neunstellige Nummer, die BookCrossing IDentnumber (BCID). Meist wird es mit einem speziellen Etikett oder Label gekennzeichnet. Anschließend wird das Buch in der „Wildnis“, wie es gerne ausgedrückt wird, ausgesetzt. Das kann jeder beliebige Ort sein: eine Telefonzelle, eine Parkbank oder ein Café. Der Finder des Buches bekommt durch die Etikettierung signalisiert, dass das gefundene Buch mitgenommen, gelesen und wieder freigesetzt werden will. Mit Hilfe der BCID kann das Buch auf der Homepage gefunden werden. Dort hat der Finder die Möglichkeit, einen „Journaleintrag“, eine Art Kommentar, zu schreiben. Auf diese Weise legt das Buch eine Reise zurück, die im Internet verfolgt werden kann. Verschiedene Spielarten des Bücheraustausches sind möglich: Bücher können z.B. per Post über Landesgrenzen an beliebige Personen verschickt werden. Für „Bücherjäger“ gibt es die „Go hunting“-Funktion, mit der man an seinem Wohnort gezielt nach ausgesetzten Büchern (deren Aussetzort und BCID online vermerkt sind) suchen kann.

 

Der Amerikaner Ron Hornbaker realisierte die Idee im Jahr 2001. Bereits im ersten Jahr nach der Einrichtung der Website bookcrossing.com registrierten sich nahezu 100 Mitglieder. Seit 2010 gibt es nach den Angaben auf der Homepage über 850 000 Mitglieder aus über 100 Ländern. Zu der englischsprachigen Hauptseite wurden in vielen Ländern Supportsites in der jeweiligen Landesprache erstellt.

 

Das rasante Anwachsen dieses Phänomens machte auch die Medien aufmerksam, die vielfach darüber berichteten. Die Medienpräsenz wird durch geplante Aktionen von Bookcrossing noch verstärkt. So wurden am 23. April 2009, dem Welttag des Buches, 1500 gespendete Bücher von der Hamburger „Buchguerilla“, einer politisch-aktionistischen Untergruppierung, „freigelassen“. Ihr Prinzip: Bücher sollen nicht in Regalen verstauben, sondern unter Menschen gebracht werden. Diese symbolische Aktion der „Buchbefreiung“ warb auf effektive Weise für BC.

 

 

Wechselwirkung mit Buchbranche und Leseförderung

 

Im amerikanischen Buchmarkt wurden Umsatzschmälerungen wegen Bookcrossing befürchtet, was sich aber nicht bewahrheitete. Viele Bookcrosser meinten dagegen, das Projekt hätte sie vielmehr zum Buchkauf angeregt, da sie dank Bookcrossing Autoren kennen und lieben gelernt hätten. In Folge dessen begannen die Buchunternehmen das Internetprojekt für ihre Marketingzwecke zu entdecken. So auch in Deutschland: bei www.bookcrosser.de kann man einsehen, welche Firmen Bookcrossing unterstützen. Zahlreiche Verlage sowie Buchhandlungen und Bibliotheken spenden Bücher, und auch Autoren, darunter namhafte wie z.B. Rebecca Gablé, kooperieren mit Bookcrossing. Der Werbeeffekt eines „reisenden“ Buches ist in vielen Fällen nicht unerheblich. Auch das landesweite Freilassen von Exemplaren einer Neuerscheinung kann eine starke Öffentlichkeitswirkung verursachen, wie es der Goldmann-Verlag Anfang 2004 mit Mark Costello’s Paranoia tat. Die Nutzung des Konzepts Bookcrossing für Verlagswerbung steckte damals noch in den Kinderschuhen. Das Potential war dennoch längst erkannt. So setzte sich 2004 eine Bookcrosserin und Studentin der Verlagswirtschaft in ihrer Diplomarbeit (öffentlich einzusehen unter www.bookcrossers.de/bcd/projekte/archiv) mit dem Phänomen auseinander und stellte Einsatzmöglichkeiten in Verlagen vor. Darüber hinaus betonte sie die lesefördernde Wirkung von Bookcrossing durch den aktiven Literaturaustausch.

 

 

Bookcrossing und Bibliophilie?

 

Zweifellos übt Bookcrossing eine starke Faszination aus. Zu einer internationalen Bewegung angewachsen, steht es allen Interessierten offen, gleich welchen Alters oder welcher sozialen Gruppe angehörig. So entwickelte es sich zu einer Online-Community: die Mitglieder diskutieren in Foren über Leseeindrücke, veranstalten Treffen, planen Aktionen, lernen sich kennen. Bookcrossing wirbt mit dem Prinzip der Uneigennützigkeit für sich: Bücher werden privat und kostenfrei  an Unbekannte weitergegeben, praktisch „verschenkt“. Das Lesevergnügen soll nicht im privaten Bereich bleiben, es soll geteilt werden, man sucht nach Feedback und Meinungsaustausch. So geht man auch das Risiko ein, dass Bücher verschwinden oder weggeschmissen werden.

 

Aus dieser Perspektive ist Bookcrossing tatsächlich eine Gemeinschaft von Menschen, die eines gemeinsam haben: die Liebe zu Büchern und die Lust am Lesen. Dass auch Internetaffinität zum Aktivsein in dieser Community dazugehört, versteht sich fast von selbst. Denn Bookcrossing ist ein Produkt des Massenmediums Internet. Kann es als eine Form der Bibliophilie gesehen werden? Es handelt sich schließlich um keine Sammelleidenschaft, wie bei der klassischen Bibliophilie, sondern im Gegenteil um eine Leidenschaft des Teilens und Austauschens. Bibliophil sind Bookcrosser auf besondere Art: sie personalisieren Bücher. Sie lassen sie frei, setzen sie aus und ermöglichen ihnen Reisen um die Welt.

 

 

Festzuhalten bleibt, dass Bookcrossing ein komplexes Phänomen ist, das man aus verschiedenen Perspektiven betrachten muss. Einerseits ist es als ein außerökonomisches Freizeitangebot eingerichtet worden, andererseits geht es auch Wechselbeziehungen mit der Buchwirtschaft und lesefördernden Institutionen ein. Es wird möglicherweise noch mehr Diskussionen darüber geben, welche Art von Kooperation zwischen Bookcrossing und der Buchbranche profitabel für beide Seiten sein kann und inwieweit es für die künftige Leseförderung einen Beitrag zu leisten vermag. Zweifellos steckt dahinter eine überaus kreative Verquickung von Büchern, Lesen und Internetnutzung.