Eine durchschnittliche Auflage liegt hier bei fünf Exemplaren, eine hohe wird mit zwanzig, maximal dreißig angesetzt. Völlig unvorstellbar, solange man die Perspektive eines Akteurs einnimmt, der sich schon seit langer Zeit in der Lesewelt der Sehenden bewegt. Und selbst mich als Blinde erstaunen diese Zahlen. Aber genau hier befindet sich der Knackpunkt: Die Auflage ist extremst gering, sodass der Verkaufspreis pro Exemplar automatisch höher angesetzt werden muss. Um noch nicht von den Herstellungskosten selbst zu sprechen, die um ein Vielfaches umfangreicher sind ...
Wie lässt es sich jedoch erklären, dass die Auflagenhöhe im Durchschnitt bei fünf Exemplaren liegt?
Zunächst greifen hier die Argumente, die ich schon öfter angesprochen habe: der Umfang eines Punktschriftbuches. Mehr Platz, den die Schrift braucht und dickeres, stabileres Papier, damit die Punkte halten können und sich bei häufigem Lesen nicht abnutzen oder wegdrücken. Die Materialkosten sind also einer der Faktoren, die bei der Kalkulation einer Buchproduktion schwer ins Gewicht fallen. Sie begründen allerdings nicht hinreichend, weshalb die Auflage von Brailletiteln so klein ist. Zumindest nicht direkt ...
Was hingegen weiterhilft, ist der Blick auf die Leser. Wer diese sind? Eine äußerst kleine und noch dazu heterogene Zielgruppe. Deutschlandweit lassen sich schätzungsweise 150.000 Blinde finden. Die meisten von ihnen sind Späterblindete, haben ihr Augenlicht also erst im höheren Alter verloren. Sie machen sich in der Regel nicht die Mühe, die Brailleschrift zu erlernen. Vielleicht können sie ihren Namen schreiben. Aber ganze Bücher lesen? Warum sich quälen, wenn es doch auch Hörbücher gibt?
Wer es dennoch versucht, will sicherlich nicht das Gleiche lesen wie alle anderen, die auf ihren Tastsinn angewiesen sind. Ich selbst bin dafür das beste Beispiel: Einer der Titel, die ich gerne lesen würde, ist Reinhard Wittmanns Geschichte des deutschen Buchhandels (Beck 1999). Aber ich bin, zumal es außer mir keine blinden Buchwissenschaft-Studenten gibt, sicherlich die Einzige, die visuell beeinträchtigt und folglich an einer Textübertragung in Blindenschrift interessiert ist ...
Dass nur eine minimale und uneinheitliche Zielgruppe existiert, drückt die Auflagenhöhe maßgeblich nach unten. Ebenso der Teufelskreis zwischen Umfang und Kosten. Die einzelnen Bände sind dick. Und man braucht oft mehrere, um ein ganzes Buch abzudecken. Aber die Produktion ist teuer. Also nicht kaufen, sondern ausleihen. Die Produktion geht mengenmäßig zurück. Kostenmäßig muss der einzelne Band nun zu einem noch höheren Preis verkauft werden, damit die Deckungsbeitragsrechnung wenigstens noch ansatzweise greift. In der Folge entscheiden sich aber noch weniger Blinde dafür, sich ein Buch anzuschaffen ...
Nur: Stimmt das wirklich? Kann man in der Blinden-Lesewelt nach dem Verfahren der Deckungsbeitragsrechnung kalkulieren?