Meinung

Lesen: Black and White

16. September 2010
Redaktion Börsenblatt
Die Farbe kommt aus dem Kopf. Jochen Jung über die Macht der Fantasie.
Vor einiger Zeit wurde auf vielen Kanälen der 100. Geburtstag von Alfred Hitchcock gefeiert, und natürlich konnte man bei der Gelegenheit neben den immer wieder gezeigten Prachtstücken des Meisters auch eine ganze Reihe seiner frühen Werke sehen. Eine gute Gelegenheit, dachte ich, meinem Kind (19 Jahre, Abitur, männlich) zu zeigen, was mich daran nach wie vor so begeistert – es wurde ein totaler Reinfall. Allerdings brauchte ich eine Weile, bevor ich mich überhaupt traute, nachzufragen, was da den offenkundigen Missmut des jungen Mannes hervorrief: schwarz-weiß, war da die Antwort, und dann: sehr anstrengend.
Ich dachte erst, ich hörte nicht recht. Tatsächlich war mir sozusagen gar nicht aufgefallen, dass The Lodger ein Schwarz-Weiß-Film ist. Es ist so, das Frühwerk des Meisters ist schwarz-weiß, wie schön, na und?
Nein, nicht "na und?", vielmehr "und nun?" wäre hier doch wohl die einzig richtige Reaktion. Ich merkte, dass da eine Generation Probleme der visuellen Wahrnehmung hatte wie meine Generation mit dem Stummfilm, dem barocken Tafelbild, den frühchristlichen Mosaiken, den archaischen Vasenbildern.
Und dann, auf einmal, schoss es mir durch den Kopf: Ist das vielleicht der Grund, warum die Jugend heute so schwer zum Bücherlesen zu bewegen ist: Da ist ja alles schwarz-weiß! Schwarze Buchstaben auf weißem Grund, Seite für Seite, ohne Aussicht auf Buntes. Nicht der leiseste Pastellton, ja nicht einmal ein bisschen Grau, nein: Schwarz und Weiß, basta.
Ob man vielleicht da ansetzen müsste? Waren nicht in den alten Inkunabeln, aber auch noch in den großartigen Handpressendrucken des frühen 20. Jahrhunderts – lang her – zumindest farbige Titel und Initialen?
Sind nicht vor allem Kinderbücher immer ein Fest der Farben und des bunten Lebens, und ist es da nicht kein Wunder, dass junge Leser sich, vom Kinder- übers Jugendbuch zum Jedermannbuch genötigt, in eine immer blasser, immer fader, immer öder werdende Welt verstoßen sehen, sozusagen aus der Villa Kunterbunt in einen nur noch schwer dechiffrierbaren Schwarz-Weiß-Film? Ist es ein Wunder, wenn man sich da nicht eingeladen fühlt, vielmehr geradezu hineingelegt, enttäuscht und abgewiesen?
Nun gut, mit ein paar bunten Buchstaben ist das wohl nicht zu lösen, so wenig wie mit dem Hinweis auf das, was es noch an Text gibt im Netz – auch das zwar in der Regel schwarz-weiß, aber oft genug eben auch nur Zwischenstrecken von Bild zu Bild "in bunt".
Die Farbe kommt vielmehr aus dem Kopf, das gilt es zu vermitteln. Dass das Blut auch in Schwarz-Weiß-Filmen rot fließt, verdanken wir unserer Fantasie, und sie, die das Gelesene ins farbige Leben übersetzt, so, wie unsere Vorstellung es will, sie ist es, die allem Farbe gibt. So ähnlich, wie der Blick des Mädchens, dem man gerade mit dem wenigen Französisch, Spanisch, Russisch, das man als junger Interrail-Reisender so draufhat, erklären will, was einen bewegt.
Die Fantasie ist es, nichts sonst, die unser Leben bunt macht, und das bedeutet: Nichts ist, wie man es sieht, alles ist so, wie man es sich vorstellt. Die Wirklichkeit wird wahr erst durch unsere
Fantasie.
Meister Hitchcock wusste das. Mein Kind wird es auch lernen.