Interview

"Auswählen, mit wem man spricht. Lernen, den Mund zu halten"

17. September 2010
Redaktion Börsenblatt
Zwischenstopp an der „HarbourFront“: Die norwegische Bestsellerautorin Anne Holt (53), ehemalige Rechtsanwältin und Justizministerin Norwegens, hat gestern im Rahmen des Hamburger Literaturfestivals ihre deutschlandweit einzige Lesung zu ihrem neuen Krimi „Gotteszahl“ (Piper) gegeben.boersenblatt.net sprach mit ihr über Respekt und Religion, Homosexualität und Verantwortung, und darüber, dass es manchmal besser ist zu schweigen.

In ihrem neuen Roman stellen sie die Religion in den Mittelpunkt. Welche Rolle spielt der Glaube in ihrem Leben?
Holt: Ich bin Atheistin, wie bereits meine Eltern. Auch mit der ganzen New Age-Bewegung habe ich nichts im Sinn. Ich glaube an die Menschenrechte, weil wir ein moralisches Konstrukt brauchen, um uns auf grundlegende gemeinsame Verhaltensrichtlinien verständigen zu können. Menschen sollten die Freiheit haben, zu denken, zu fühlen und zu glauben, was immer sie wollen. Vor Religionen habe ich großen Respekt, auch wenn ich wünschte, es gäbe sie nicht.

 

In „Gotteszahl“, das im Original ja einen völlig anderen Titel hat, nämlich „Pengemannen“, was so viel wie „Geldmacher“ bedeutet, töten Mitglieder einer fanatischen, religiösen Gruppe im Namen Gottes. Was steckt für sie dahinter?
Holt: In unserer Welt, die täglich immer mehr zusammenrückt, ist es eine große Herausforderung, miteinander klar zu kommen. Der Schlüssel liegt darin, einander zu respektieren. Darum geht es mir im Buch: Man braucht andere Leute nicht zu verstehen, man muss sie nicht mögen, nicht einmal tolerieren. Aber man muss einen Weg finden, mit ihnen zu leben, ohne sie ständig zu beleidigen und anzugreifen. Denn sonst leistet man Gruppen, wie ich sie im Buch beschreibe, Vorschub.

 

Wie lautet ihr Vorschlag, dies umzusetzen?
Sicher nicht, in dem man Cartoons von Mohammed als Schwein zeichnet. Das Recht auf freie Rede, eines der wichtigsten Menschenrechte, ist nach den Anschlägen vom 11. September zur neuen „Religion“ der westlichen Welt erhoben worden. Aber wer große Freiheit hat, muss viel Verantwortung zeigen. Das heißt, wir könnten eine bessere Welt haben, wenn wir versuchten ein bisschen höflicher miteinander umzugehen. Es gibt beispielsweise viele Leute, die ich nicht mag, aber ich laufe nicht ständig herum und greife sie an. Sondern ich halte mich fern von ihnen.

 

Manchmal ist es gar nicht so einfach, sich „fernzuhalten“, wie sie sagen. Welche Erfahrungen haben sie als Person gemacht, die viel in der Öffentlichkeit steht?
Holt: Als homosexueller Mensch über 50 habe ich viele Situationen erlebt, in denen andere meinten, sie hätten das Recht mich anzugreifen. Als zum Beispiel vor drei Jahren in Norwegen die Heirat gleichgeschlechtlicher Paare gesetzlich gleichgestellt wurde, waren fundamentalistische christliche Gruppen sehr aktiv, die gut organisiert sind und Einfluss haben. Völlig Verrückte! Aber ich lasse nicht jeden mich angreifen – da bin ich wählerisch. Sie sind wie lästige Insekten, die stören, aber nicht gefährlich sind. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass etwas mehr Respekt und Zurückhaltung gut wären – das gilt für fast alle Situationen. Es ist wichtig, zwischen privater und öffentlicher Person zu unterscheiden. In meinem Leben soll es nur sehr wenige, mir nahe stehende Menschen geben, die Einblick in meine privaten Angelegenheiten haben. Meiner 18jährigen Nichte habe ich gerade den Rat gegeben, ihre Facebook-Seite zu schließen. Auf Facebook und Twitter legt man alles offen – ich hasse das, alles von sich preis zu geben und quasi „nackt“ dazustehen.. Die Welt wäre besser, wenn sich jeder etwas zurückziehen würde. Nach Hause gehen. Nicht zu allen freundlich sein. Auswählen, mit wem man spricht. Lernen, den Mund zu halten.

 

Das könnte auch als Aufforderung zum absoluten Rückzug ins Private verstanden werden...
Holt: Eine lebhafte, öffentliche Debatte über Politik, Moral, Ethik und Religion muss natürlich stattfinden. Auch ich engagiere mich. Aber mir ist aufgefallen, das die Auseinandersetzungen in den vergangenen zehn Jahren zugenommen haben und schärfer ausfallen. Krieg, Terror, Konflikte zwischen Christen und Muslimen nehmen täglich zu und eskalieren. Und obwohl die Menschen mehr reisen und mehr Freunde in anderen Ländern haben, wir also eigentlich toleranter geworden sein müssten, ist das Gegenteil der Fall. Das große Bild zeigt sich im Kleinen, bis in die Schulhöfe hinein – und das macht mir Sorgen.

 

Interview: Christina Busse