Sechs Shortlist-Autoren im Frankfurter Literaturhaus

Deutscher Buchpreis: "Feuer für die Sache, Wasser für die Kehle, aufgeheizte Luft für die Autoren"

19. September 2010
Redaktion Börsenblatt
Von Schneewittchen-Aufführungen, Sinfonie-Kompositionen, Beatles-Zitaten, Späßen gegen die Schwere der eigenen Geschichte, Neologismen und über Lacher, die einem im Halse stecken bleiben: Das Alles war die Lange Nacht der Kurzen Liste, die eben im Literaturhaus Frankfurt gefeiert wurde.

"Eintrittskarte erwünscht für die Lesung" steht auf einem grünen Blatt, das eine Frau vor dem Literaturhaus Frankfurt in die Höhe hält. Drinnen prangt ein roter "Ausverkauft"-Schriftzug auf dem Programm zur Langen Nacht der Kurzen Liste. Zum dritten Mal präsentieren das Kulturamt und das Literaturhaus Frankfurt gemeinsam mit dem Stifter des Preises, dem Börsenverein, die Autoren der Shortlist des Deutschen Buchpreises vor der Preisverleihung im Oktober. Zum ersten Mal ist es gelungen, dass alle sechs Autoren an der Veranstaltung in Frankfurt teilnehmen.

"Feuer für die Sache, Wasser für die Kehle und das richtige Maß an aufgeheizter Luft", wünschte der Leiter des Frankfurter Literaturhauses, Hauke Hückstädt, zu Beginn der Veranstaltung. "Der Börsenverein hat den Deutschen Buchpreis mit dem Ziel gestiftet, der deutschsprachigen Literatur im nationalen und internationalen Raum mehr Geltung zu geben", sagte Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins bei seiner Begrüßung. "Wir freuen uns darüber, dass in den Feuilletons so kräftig über die Auswahl der Jury gestritten wird."

 

Den Anfang der Langen Lese-Nacht eröffnete die in Serbien geborene und heute als Musikerin und Schriftstellerin in der Schweiz lebende Melinda Nadj Abonj. In ihrem Roman "Tauben fliegen auf" (Jung und Jung) schreibt sie über die Erfahrung des Heimatverlusts. Im Gespräch mit Maike Albath (Deutschlandradio Kultur) lenkt sie den Blick aber auch auf das Arbeitermilieu, in dem ihre Erzählung spielt. "Es ist auch eine Geschichte über eine bestimmte Schicht, das wird oft zu wenig angesprochen", so die Autorin. "Tauben fliegen auf", die bewegende Geschichte einer Emigration aus dem ehemaligen Jugoslawien,  ist in der Ich-Form erzählt, dennoch sei vieles erfunden. "Ich kann mein Leben nicht abschreiben", sagte Melinda Nadj Abonj. "Wer kann das schon? Es ist zu langweilig." Ohne die Form des Ich-Erzählens hätte sie jedoch den Kern der Geschichte nicht treffen können. "Mein erstes Jahr in der Schweiz war ein sprachloses Jahr", erzählt die Autorin. Bei einer Schneewittchen- Aufführung in der Schule hätte sie daher nur den Baum darstellen dürfen, erzählt sie. Später habe sie eine "unheimliche Liebe zu Heinrich von Kleist" entwickelt und immer wieder Sätze gelesen, "an denen ich wirklich gekaut habe".  

 

Thomas Lehr, der mit seinem Roman "42" schon einmal auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis stand, hat mit "September. Fata Morgana" (Carl Hanser Verlag) einen Roman vorgelegt, der den 11. September und die kriegerischen Folgen zum Thema hat. Auf die Frage von Alf Mentzer (hr2-kultur), wie er den 11. September erlebt habe, erzählt Lehr davon, dass er nach einem Anruf eines Freundes den Fernseher eingeschaltet habe und alle Sendungen auf CNN impulsiv auf Video aufgenommen habe, damals noch ohne zu wissen, dass er darüber mal ein Buch schreiben will. "Ich schrieb damals gerade an dem Roman '42' und sammelte das Material zum 11. September quasi auf einer zweiten Spur." Noch nicht das Romanprojekt im Kopf habe ihm das Sammeln von Zeitungen - "kartonweise" - und Videomaterial vor allem geholfen, selbst mit den Geschehnissen besser umgehen zu können. "'September. Fata Morgana' ist ein Roman, der einen auf der ersten Seite irritiert, auf der zweiten packt und dann nicht mehr los lässt", sagte Moderator Alf Mentzer. Das liegt vor allem auch daran, dass Lehr in seinem Werk konsequent auf Punkt und Komma verzichtet. Lehr hat sich damit bewusst stark an die Lyrik angelehnt. Die strenge Komposition mache den Text für den Leser überlebbarer. Mit dem Untertitel "Fata Morgana" habe er das Flirren wiedergeben wollen, das bei ihm beim Schreiben ausgelöst wurde, weil er zeitlich so nah am Geschehen war. "Es ist ein ernsthafter Text, wie bei einer Sinfonie. Sie können nebenher nicht Geschirrspülen."

 

Judith Zander hatte mit ihrem Debütroman "Dinge, die wir heute sagten" (dtv) die längste Lesezeit, dafür aber das kürzeste Gespräch. "Ich lese lieber länger als zu sprechen", hatte sie vor ihrem Auftritt zu Moderator Gerwig Epkes (SWR2) gesagt. Vor ihrem ersten Roman hat Zander Lyrik verfasst. "Es war vorher nicht vorstellbar für mich, einen Roman zu schreiben. Und jetzt danach ist wieder der gleiche Zustand eingetreten", sagt die in Berlin lebende Schriftstellerin und jüngstes Mitglied der Shortlist (1980 in Anklam geboren). "Die Geschichte zu 'Dinge, die wir heute sagten' habe ich schon während des Studiums begonnen. Die Figuren waren also schon da und wollten noch mehr erzählen. Der Titel "Dinge, die wir heute sagten" ist übrigens die Übersetzung des Beatles-Songs "Things we said today".

 

Peter Wawerzineks Roman"Rabenliebe" (Galiani Berlin) ist die Geschichte eines verlassenen, verratenen Kindes, das in Waisenheimen der DDR aufwächst - seine Geschichte. "Ich habe immer viel abgescannt in der Zeit, aber nicht viel dazu sagen können", sagt Wawerzinek, der unter dem Namen Peter Runkel 1954 in Rostock geboren wurde und in verschiedenen Heimen und bei verschiedenen Pflegefamilien aufwuchs. "Aber ich wusste, dass es irgendwann mal aus mir rausplatzt." Moderator Gerwig Epkes brachte auf den Punkt, was viele Zuhörer, die den Roman kennen, während des Gesprächs ähnlich empfunden haben dürften: "Man kann viel mit ihnen lachen. Wenn man aber das Buch liest, dann fühlt man eher Empathie und Trauer." Um sich selbst von der Schwere und dem Druck zu befreien, habe er Späße in seine Geschichte eingebaut, erklärt Wawerzinek.

 

Jan Faktor wälte beim Lesen aus seinem Roman "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag" (Kiepenheuer & Witsch), in dem es um eine Kindheit und Jugend im sozialistischen Prag von den 50er bis in die 70er Jahre geht, eine eher unverfängliche Stelle aus und wich Fragen von Moderatorin Maike Albath nach den zahlreichen sexuellen Szenen im Buch gekonnt aus. Auf die Frage nach der Bedeutung des Begriffs "Hodensack-Bimbam" sagte Faktor: "Ich wollte das Wort 'Bimbam' benutzen, aber das ist schon so abgenutzt. Und dann kam der Hodensack dazu." Unter der Kategorie "Jüdisches Schicksal" möchte Faktor seinen Roman nicht eingeordnet wissen: "Ich sehe das eher politisch".

 

Die lange Lese-Nacht beendete schließlich Doron Rabinovici mit seinem Roman "Andernorts" (Suhrkamp Verlag). "Die Idee, dass Kultur vererbt werden kann, ist für mich abstrus", sagte Rabinovici auf die Frage von Alf Mentzer, der auf die aktuelle Sarrazin-Diskussion anspielte. Gerade in Krisen gäbe es die Versuchung, mit Hilfe von Biologismen über Soziales zu reden. "Andernorts" spielt zwischen Israel und Wien und verhandelt die großen Fragen des Judentums, der Schoah, des Erinnerns und Vergessens - und das auf ziemlich komische Weise. Dabei erzählt Rabinovici die Dinge meist so, dass dem Leser das Lachen im Halse stecken bleibt.

 

Sabrina Gab