Der Schluss sei noch gar nicht geschrieben, erfahren wir bei einem Besuch im Frankfurter Literaturhaus, bei dem auch klar wird, warum alles ein bisschen länger dauert. Kurzeck kommt mit seinen Besuchern gerne ins plaudern. Aber gerade das macht schließlich den Reiz dieses Projekts aus.
Die Tür steht offen. Wer will, tritt ein, setzt sich, hört zu. Wer will, lässt sich diktieren, tippt ab, wird Teil des Schaffensprozesses. Kommenden Mittwoch will Peter Kurzeck im Frankfurter Literaturhaus die letzte Seite zu seinem Roman "Vorabend" (Stroemfeld), gerade mit dem Robert Gernhardt Preis ausgezeichnet, ins Reine diktiert haben. Das sagt zumindest sein Lektor Alexander Losse, der an diesem Dienstag den Dienst am Laptop übernommen hat. Kurzeck selbst sagt, er habe den Schluss noch nicht geschrieben und zeigt einige voll gekritzelte Schmierblätter, auf denen noch die Fahrplanauskunft der Österreichischen Bundesbahn zu lesen ist. "Das Genie beherrscht das Chaos" fällt einem beim Blick auf die Zettel unwillkürlich ein. Kurzecks Schaffensprozess, das fortwährende Umarbeiten des Geschriebenen ist auch der Grund für die Idee, das Manuskript, aus dem bis zur Leipziger Buchmesse 2011 rund 1.200 Romanseiten werden sollen, öffentlich zu diktieren. Die eng mit Schreibmaschine beschriebenen und mit unzähligen handschriftlichen Korrekturen versehenen Manuskriptseiten hätten jedes Scan- und Textverarbeitungsprogramm verzweifeln lassen.
Aber auch für den Autor selbst hat das öffentliche Diktat, bei dem zuweilen bis zu zehn Besucher zugehört und bei dem in den zwei Monaten insgesamt 39 freiwillige Abtipper mitgeholfen haben, eine wichtige Bedeutung. Es gibt dem Schaffensprozess einen gewissen Rahmen, übernimmt in gewisser Weise eine Kontrollfunktion. "Ich hätte das Manuskript auch selbst abtippen können", sagt Kurzeck. "Aber ich hatte Angst, ich verliere mich in dem Labyrinth und vielleicht wäre dann ein ganz anderes Buch daraus geworden."
So diktiert Kurzeck täglich von 10 Uhr bis 16 Uhr, hält nur ab und an inne, um aus einem Punkt doch ein Komma zu machen oder das ein oder andere Wort zu ergänzen. Viel mehr passiert nicht mehr an dem Manuskript. Kurzeck liest so langsam, beton so genau, dass man die Geschichte gut mitverfolgen kann, selbst wenn man sich gleichzeitig auf das Tippen konzentrieren muss. Manchmal passiert es ihm, dass er seine Ergänzungen im Manuskript selbst nicht gleich auf Anhieb lesen kann. Dann nimmt er eine Lupe zur Hand. Bevor er ein neues Manuskriptblatt zur Hand nimmt, scannt er mit den Augen noch einmal die gerade diktierten Zeilen ab. "Ich prüfe immer noch einmal genau meine Korrekturen, ob ich auch nichts verpasst habe", erklärt er. Lektor Alexander Losse kann dem Diktat mühelos folgen, nur ab und an blickt er auf und fragt nach, etwa was ein PX sei. Kurzeck scheint diese Pausen besonders zu lieben, dann kann er erzählen, von früher, von der Zeit, in der er in den PX-Stores der US Army amerikanische Blues-Platten gekauft hat.
In der Pressemitteilung, die der Stroemfeld Verlag zu Beginn des Projekts mit dem Aufruf "Freiwillige gesucht!" verschickt hatte, war der Hinweis zu lesen "Es wird gebeten, sich leise zu verhalten." Da hat der Verlag wohl übervorsichtig gehandelt. Wenn es nach Kurzeck geht, muss hier keiner Still sein. Im Gegenteil, das irritiert den Erzähler nur. Es freut ihn, wenn sich beim Abtippen die Mimik des Zuhörers verändert, wenn laut aufgelacht wird. Für ihn ist das ein willkommenes Zeichen innezuhalten, mit seinen Besuchern ins Gespräch zu kommen. Mehr über diese zu erfahren. "Man weiß über jemanden mehr, wenn man mit ihm gearbeitet hat", erklärt er. Das trifft nach so einem Tag im Literaturhaus für beide Seiten zu.
Sabrina Gab