Literatur im Fernsehen

"Druckfrisch" - neue Bücher mit Denis Scheck

23. September 2010
Redaktion Börsenblatt
Am Sonntag, 26. September, stellt der Literaturkritiker Denis Scheck im Ersten wieder neue Bücher vor (23.30 Uhr). Mit dabei Hanns-Josef Ortheils "Moselreise" (Luchterhand Verlag) und "Der Tag vor dem Glück" von Erri de Luca (Graf Verlag).
Dichten und Reisen: Hanns-Josef Ortheil über das Geheimnis seiner Jugend

Hanns-Josef war ein stilles Kind. Er sprach irgendwann nicht mehr mit seinen Eltern und auch nicht mit den Lehrern. Das konnte nicht gut gehen in der Schule, weshalb ihn sein besorgter Vater eines Tages mitnahm auf eine lange Reise an die Mosel, im Sommer 1963. Und tatsächlich fing der junge Ortheil, ruhig und geduldig vom Vater gefordert, endlich wieder an zu reden. Und: Zu schreiben. Und schrieb seitdem ohne Unterlass. Tagebücher, Romane, Reisegeschichten. Davon erzählt dieses Buch.
„Die Mosel ist grünblau und grünbraun, an den Rändern aber eher grün.
In der Mitte ist die Mosel wie ein dunkler, stiller Teich, fett und dunkelgrün und unheimlich.
Die Ufer spiegeln sich in der Mosel, dort zerfließen die Farben wie Wasserfarben auf meinen Schulbildern.
Ich wäre gern einmal von der Fähre aus in die Mosel gehüpft, in der Mitte, wo sie voller Wolkenbilder ist.
Ich hätte mich auf dem Rücken ein Stück mit der Mosel treiben lassen und hätte in den Himmel geschaut.“
Das also hat ein Elfjähriger geschrieben. Man liest es und staunt über das Talent dieses Kindes. Und man liest weiter und erkennt, wie da natürlich auch der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil geboren wurde, wie Literatur vor der Literatur entstand, und wie Ortheil heute, fast 50 Jahre später, seine Anfänge wieder in die Hand nimmt, mit dem alten Text arbeitet, dabei sehr viel von sich preisgibt und so ein in jeder Hinsicht einzigartiges, berührendes Buch geschaffen hat.
Hanns-Josef Ortheil, geboren 1951 in Köln, wurde für sein Werk unter anderem mit dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet.
(Hanns-Josef Ortheil, Die Moselreise, Luchterhand Verlag)

Unter dem Vulkan: Erri de Luca über eine Kindheit in Neapel
Ein Waisenkind in den Gassen von Neapel. Ein Fußball. Ein Topf Suppe. Der Blick eines Mädchens irgendwo oben hinter dem Vorhang. Das ist alles. Daraus macht Erri de Luca große Literatur. Und es gelingt ihm, weil er eine ganz wunderbare, einzigartige Sprache zur Verfügung hat, die einfach ist, reduziert, sehr genau, flirrend schön, überraschend und weise.
„Im Sommer stehe ich früh auf, ich gehe mit dem Kescher zu den Klippen von Santa Lucia, um Seeigel zu fangen und, wenn ich Glück habe, vielleicht einen Kraken. Ich bleibe ein paar Stunden, bevor die Sonne hinter dem Rücken des Vulkans aufsteigt. Aus den Klubs kommen die Herrschaften, die nach einem nächtlichen Fest heimkehren. In ihren Abendkleidern dem ersten Sonnenlicht ausgesetzt, eilen sie zurück ins Dunkel ihrer Häuser, wie Fledermäuse, die sich verspätet haben. Ich sehe auch den Grafen, der in unserem Haus wohnt und seine Habe an den Tischen im Klub verspielt. Er sieht mich nicht. Die Herrschaften haben einen anderen Blick als wir, wir müssen alles sehen. Sie sehen nur das, was sie sehen wollen.“
Eine archaische Gesellschaft entfaltet sich da unter dem Blick Erri de Lucas, eine Gesellschaft, geprägt von Armut, Enge, Religion und Gewalt. Es ist das Neapel kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, der frühen 50er Jahre, also auch das der Kindheit Erri de Lucas. Diese Zeit ist vergangen. In diesem Buch aber erscheint sie noch einmal, wundersam, und schmerzlich schön.
Erri de Luca, 1950 in Neapel geboren, war Maurer und Lastwagenfahrer, fing erst mit vierzig zu schreiben an und ist heute einer der meistgelesenen Autoren Italiens. ‚Der Tag vor dem Glück’ wurde mit dem Petrarca-Preis 2010 ausgezeichnet.
(Erri de Luca, Der Tag vor dem Glück, Graf Verlag)

…außerdem, wie immer, Denis Schecks Kommentar zu den Büchern auf der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste (diesmal Sachbuch) und eine ganz persönliche Empfehlung: J.R.R.Tolkiens 'Die Legende von Sigurd und Gudrun' (Klett-Cotta Verlag)!