Meinung

Eine Zensur gibt es nicht

13. Januar 2011
Redaktion Börsenblatt
Haben Tabuthemen wie Gewalt und Sexualität nichts im Jugendbuch zu suchen? Doch, meint Susanne Helene Becker, die Vorsitzende der Kritikerjury des Deutschen Jugendliteraturpreises:
Eins gleich vorweg: Ich selbst als Leserin und ganz für mich persönlich bin eher sensiblerer Natur – insofern bin ich ein recht guter Gradmesser für Grenzüberschreitungen im Bereich der Gewalt. Meine persönlichen Vorlieben ändern aber nichts an der Tatsache, dass ich aus beruflichen Gründen viele Kinder- und Jugendromane lese, die Gewalt und Sexualität thematisieren. Wohlgemerkt: thematisieren und nicht schildern, um der Schilderung willen. Dabei denke ich an Romane wie die von Kevin Brooks, etwa „Lukas“ oder „Road of the Dead“. Ich denke an Jan Guillous „Evil“ (übrigens ein fast 30 Jahre alter Roman, wenn auch in Deutschland erst vor einigen Jahren erschienen), an Anthony McGowans „Der Tag, an dem ich starb“, an Tobias Elsässers „Abspringen“ und Melvin Burgess’ „Doing it“. Daneben gibt es Bücher für Jugendliche, in denen Gewalt oder Sexualität offenbar als Mittel der Leserbindung genutzt werden. Doch solche schlecht geratenen Romane gibt es zu allen Themen und Stoffen.

 

Romane wie die genannten zeichnet für mich aus, dass sie nicht geschrieben sind, um sich an der Gewalt zu delektieren oder um pornografische Bedürfnisse zu befriedigen. Mal im Ernst: Wer will, kommt an so etwas härter, offener und leichter zugänglich heran als mit diesen Büchern von dtv, Hanser, Ravensburger, Sauerländer oder Carlsen ‑ beispielsweise im weltweiten Netz. Diese beispielhaft genannten Romane sind vielmehr geschrieben entweder, weil sie sich mit der Dynamik und dem Wesen von Gewalt auseinandersetzen, also statt blutrünstiger Geschichten Denkanstöße geben, oder, weil es in Punkto Sexualität einfach sehr viele Fragen gibt, auf die Jugendliche heute nicht mehr nur heimlich nach Antworten im elterlichen Gesundheitslexikon suchen wollen.

Nicht jedes Buch "passt" für jeden Leser

Nun gibt es aber berechtigte Einwände von Vermittlern, denen das alles ein wenig zu weit geht, etwa "Bücher, die vom Extremen erzählen, erzeugen Redebedarf beim Leser. Der ist aber nicht immer gegeben. Dann bleiben die Leser mit ihren Eindrücken und ihren Gefühlen allein." Ein wichtiger Punkt: Was geschieht, wenn jemanden die Lektüre sehr aufwühlt? Abgesehen davon, dass „Doing it“ oder „Abspringen“ keineswegs Bücher sind, über deren Inhalt Jugendliche gerne mit Erwachsenen sprechen wollen würden - was auch gut so ist -, fällt mir spontan die 13-Jährige ein, die nach der Lektüre von Gudrun Pausewangs „Die letzten Kinder von Schewenborn“ blass um die Nase kundtat: „Von der Autorin les ich nie wieder ein Buch!“

Klare Sache: Bücher mit emotional berührenden, mit fordernden Inhalten sind nicht für alle Leser geeignet. Die Bücher, die hier gemeint sind, sind definitiv keine Bücher für jeden. Sie sind Lesestoff nur für die Leser, die sich mit Gewalt auseinandersetzen wollen und in der Hinsicht auch etwas ertragen und aushalten können. Das ist aber nicht eine Frage der Präsenz solcher Bücher auf dem Markt, sondern eine Aufgabe der Vermittler (beileibe nicht nur der Lehrer – nicht jedes Buch gehört ja in die Schule, sondern auch der Buchhändler oder Bibliothekare), die ja immer schauen müssen, zu welchem Leser welches Buch passt. Bei Licht betrachtet, stellt also dieser Einwand eine sehr alte Frage neu: Beschützen wir die Heranwachsenden oder zeigen wir ihnen, wie die Welt ist?

Meiner Meinung nach gilt: Eine Zensur gibt es nicht – das weitere regelt das Grundgesetz ... Andernfalls müsste man fragen: Wer bestimmt denn, vor was die Leser geschützt werden sollten? Und mit welchem Recht? Merkt nicht jeder selbst, wenn ihn ein Buch überfordert? Ich meine: Ja, wenn man ihm im Verlauf seiner Lesesozialisation vermittelt hat, dass er sich bei der Auswahl von Lesestoff getrost auf sein Gefühl verlassen darf. Bücher zu extremen Themen fordern also einen selbstbewussten und versierten Leser.

Auseinandersetzen statt sich Gewaltphantasien hingeben

Ein weiterer Einwand lautet: "Es gibt ohnehin schon hinreichend viele gewaltbereite Jugendliche. Solche Romane befriedigen deren Lust an Gewaltphantasien und regen womöglich zur Nachahmung an." Klar, die Medienberichte von Gewalttaten von Jugendlichen verstören. Wie kommen Jugendliche dazu, Mitschüler zu quälen ‑ bis zum Tode? Andres Veil ist dieser Frage in „Der Kick“ akribisch nachgegangen – auch eine empfehlenswerte Lektüre für jene, die wissen wollen, wie das mit der Gewalt abläuft und woher sie kommt. Aber wohlgemerkt: Wir sprechen hier nicht von Splatter-Filmen, sondern von Romanen, die kein bisschen dazu angetan sind, sich dem Genuss an Gewalt schildernden Szenen hinzugeben. In Romanen wie Jan Guillous „Evil“ oder Kevin Brooks „Road of the Dead“ kann der Leser eben nicht schnell mal die gewünschte Lust an idealisierter Gewalt befriedigen. Dafür haben die Autoren gesorgt: Die Sezierung der väterlichen „Züchtigungwissenschaft“ und die Darstellung, wie Erik in die autoritäre Internatsstruktur mit eben diesem zu Hause gelernten Wissen eingreift, erschreckt, verwirrt, weil die Hauptfigur zunächst tiefes Mitleid weckt und dann selbst so gewalttätig wird. Oder die Erzählkunst von Brooks in „The Road of the Dead“: ein Roman, der den Leser mehr und mehr hineinzieht in die Spirale von Gewalt und Mord und ihn womöglich gewahr werden lässt, wie weit er in seiner Akzeptanz von Gewalt geht, wenn er sich in die beiden Brüder hineinversetzt: Solche Romane sind keine Musterbücher für Schlägertypen und Amokläufer – dass jeder User gleich selbst zum Messer greift, ist noch nicht einmal bei Ego-Shooter-Spielen nachzuweisen.

Kurz und gut: Gewünscht haben wir uns solche Romane wohl nicht, aber ihre Präsenz zeugt von einer veränderten Erzählkultur und von einem veränderten Bedürfnis sich mit „Tabu-Themen“ auseinanderzusetzen. Sie sind nicht einmal schlimmer als die Realität – sie schildern nur Realitäten, von denen Jugendliche sonst vielleicht nur die Meldung in den Nachrichten kennen würden. Und ist es da nicht besser, dass es Erzählungen gibt, die Klartext sprechen und Jugendlichen Stoff zum Nachdenken geben? Wohlgemerkt: nicht jedem Jugendlichen. Aber welches Buch passt schon für alle?