Vor etwas mehr als einem Jahr hat das Deutsche Literaturarchiv Marbach die Verlagsarchive von Suhrkamp und Insel gekauft. Im Rahmen einer Tagung sollten die Bestände nun erstmals vorgestellt werden. War die Zeit ausreichend, um eine erste Bilanz zu ziehen?
Bürger: Für eine umfassende Bilanz ist es noch zu früh. Aber wir wollten der Wissenschaft eine Bilanz dessen präsentieren, was wir seit einem Jahr vorsortieren, und eine Ahnung davon vermitteln, was in den nächsten Jahren alles zu erwarten ist. Richtig spannend wird es werden, wenn einmal alles erfasst ist: Dann kann jeder Benutzer seine eigenen Kombinatoriken aus den Materialien ableiten und so auch zu neuen Thesen gelangen. Bisher bewegen wir uns noch im Vorfeld der Erforschung, in dem man in erster Linie Hypothesen formuliert. Darin lag vielleicht auch eine Schwierigkeit der Tagung: Dass man sein Vorwissen mitbringt und schaut, ob man im Archiv eine Bestätigung für das findet, was man eh schon zu wissen glaubt.
Kam die Tagung also zu früh?
Bürger: Nein. Zum einen war es unser Ziel, die wissenschaftliche Öffentlichkeit auf die Möglichkeiten aufmerksam zu machen, die das Archiv bietet. Zum anderen haben wir Außenstehende gebeten, Thesen an das Material heranzutragen, um in der Diskussion Forschungsfragen zu entwickeln und Perspektiven auf das Material zu erproben.
Die Papiere aus Frankfurt haben Platz in rund 9000 Archivkästen gefunden. Wie viel davon ist bisher gesichtet?
Bürger: Die Ordner sind natürlich noch nicht alle im einzelnen durchgesehen. Aber wir haben schon bei der Übernahme versucht, das Ganze systematisch zu ordnen. Das perfektionieren wir fortwährend.
Die Überschrift der Tagung war »Die Suhrkamp-Ära«. Man könnte meinen, Sie haben über einen Verlag diskutiert, der nicht mehr existiert ...
Bürger: Das war ja nicht auf den gegenwärtigen und sehr lebendigen Suhrkamp Verlag bezogen. Wir hier in Marbach gehören doch zu den engagiertesten Lesern und Fürsprechern des aktuellen Programms. Die Bedeutung allerdings, die Suhrkamp in der alten Bundesrepublik, also vor 1989, zukam, kann ein Verlag heute tatsächlich wohl nicht mehr haben. Suhrkamp war ja fast so etwas wie eine heimliche Hauptstadt.
Es war eine Tagung, die darauf verzichtet hat, etwa die Verlegerin oder einen der Geschäftsführer von Suhrkamp aufs Podium einzuladen. Warum?
Bürger: Unsere Zielrichtung war eine andere: die Forschung, die Germanistik, die Geisteswissenschaften und die Wissenschaftsgeschichte. Die Frage, was man jetzt schon über die Geschichte Suhrkamps sagen kann, rückt Verlagsmitarbeiter zwangsläufig in die Rolle des Zeitzeugen, nicht in die des Forschers.